Zuckerbrot und etwas Respekt

Algerien Die Regierung Bouteflika ist bemüht, Sympathien zu ködern und mit gut gefüllten Läden sowie mehr politischer Toleranz Umbrüche wie in Tunesien und Ägypten zu verhindern

Das Land, das ich seit 35 Jahren als ein besonders asketisches kenne, macht auf mich nun zum ersten Mal den Eindruck eines reichen Erdölstaates. Nicht nur die Führung, auch die Bevölkerung scheint von der Rendite zu profitieren. Zwar fehlen noch die vielfarbig schimmernden Wolkenkratzer, wie man sie in den Traummetropolen am Golf sieht. Aber der Reisende wird am Rande eines unablässig erweiterten Straßennetzes immer wieder mit moderner Repräsentationsarchitektur konfrontiert. Der verblüffendste Wandel lässt sich an der bis vor kurzem von trauriger Bescheidenheit geprägten Flaniermeile Algiers beobachten, die aus zwei ineinander übergehenden, nach den Märtyrern des Unabhängigkeit – Didouche Mourad und Ben M’hidi – benannten Straßen besteht. Anstelle einfacher, stickiger Läden, in denen einst nur schlichte Kleidung angeboten wurde, sind in modernisierten und klimatisierten Geschäften nun für zehn Euro Fummel zu haben, die bislang eine Paris-Reise erforderten. Wie alle wissen, stammt die Ware aus China. Doch scheint allein wichtig, dass es sich um die gleiche Mode handelt, die gerade an der Seine populär ist. Und da man weder ein Visum noch viel Geld braucht, um sich chic zu fühlen, hat sich bereits ein Grund zum Frust erledigt.

Ich begleite Si Slimani, einen pensionierten ehemaligen Beamten der Wasserwirtschaft, bei seinem allmorgendlichen Spaziergang in die Unterstadt. Mir scheint, dass die Freude an der Selbstdekorierung bei Frauen die Grenze zwischen Verschleierten und Unverschleierten verschwimmen lässt. Fast verschwunden ist der einstige Hidjab, ein dunkler, Körperformen völlig verdeckender Mantel mit einem tief auf die Stirn gezogenen einfarbigen Kopftuch. Heute verhüllen viele Frauen ihr Haar mit einem Tuch in schreienden Farben, das kühn geschlungen und oft mit Schmuck besetzt ist. Ob das Haar bedeckt wird oder nicht – das in Algier derzeit beliebteste Kleidungsstück ist ein winziges, eng gebundenes Miederjäckchen, das Brüste provokativ betont. „Der tiefste Sinn des Kopftuchs“, philosophiert Si Slimani, „besteht eben in der Aussendung des Signals, dass die Frau heiraten möchte. Bis vor kurzem hob sie dafür ihre keuschen Qualitäten hervor, neuerdings die verführerischen.“ Als Angehöriger der säkularen Gründergeneration Algeriens habe er seinen Töchtern die Verschleierung verboten, solange er Verantwortung für sie trug.

Viele böse Blicke

Die Konsumoffensive, mit der die Regierung von Präsident Bouteflika das Volk von Revolutionen wie in Tunesien, Ägypten und Syrien abhalten möchte, stimuliert die Koketterie der Frauen und hat, wie mir scheint, die Zahl der Bärtigen in Algiers Straßen vermindert. Beginnt sich das Land vom Islamismus zu lösen? „Da täuschen Sie sich“, meint Si Slimani. „Nicht jeder Islamist trägt noch einen Bart. Mein Bruder und ich sind jetzt die einzigen in unserem Haus, die nicht zum Beten in der benachbarten Moschee erscheinen. Wenn wir kurz vor oder nach den Gebetszeiten auf die Straße gehen, strömt uns die gesamte männliche Nachbarschaft entgegen. Man erntet böse Blicke.“

Ich frage, wie er den künftigen Einfluss der Islamisten in Ägypten und Tunesien einschätzt. Da sei er pessimistisch, sagt Si Slimani mit schneidender Stimme, „besonders bei Ägypten. Die Armee hat sich zunächst zwar intelligent verhalten, aber wie geht es weiter? Behält sie die Macht oder gibt es wirkliche Wahlen? Wenn die Moslembrüder jetzt auch kaum in Erscheinung treten, sind sie doch die bestorganisierte Kraft. Auch in Tunesien machen sie sich bemerkbar. Neulich wollten sie die Premiere des Films Kein Gott, keine Herrschaft blockieren. Aber in Tunesien ist die Chance größer, ihren Einfluss zu begrenzen.“

Später setzt mir Si Slimani auseinander, dass der algerische Staat seiner Meinung nach einen nicht geringen Teil der islamistischen Gewalt selber inszeniere. „Die Mächtigen brauchten das, um Macht zu behalten. Daraus ist eine widerliche Machtteilung geworden. Die Gewalt ist nicht beendet, denn die Islamisten dürfen weiter aggressiv sein. Stellen Sie sich vor, dass es in Algier gefährlich bleibt, vor oder nach dem Freitagsgebet im Auto unterwegs zu sein. Man riskiert, am helllichten Tage mit Steinen beworfen zu werden. Aber leider ist das die einzige Gelegenheit, einmal dem ewigen Stau zu entgehen!“

Der ewige Stau! Zur Konsumoffensive gehört die unbeschränkte Einfuhr von Autos, die sich dank großzügiger Bankkredite mehr Menschen als früher leisten. Alle größeren Orte erleiden bereits den Verkehrsinfarkt. Es rächt sich, dass in der Hauptstadt nach der Unabhängigkeit die Straßenbahn abgeschafft wurde, um Platz für Autos zu gewinnen. Nun legt man wieder Straßenbahngleise. Aber nur Allah weiß, wie oft die Bahnen fahren. Eine Metro ist schon seit 30 Jahren im Bau, weist auch bereits einige Eingänge auf, aus denen üble Gerüche aufsteigen, weil Passanten Abfälle hineinwerfen. Darin drücke sich die Verachtung gegenüber dem Staates aus, so Si Slimani, weil bislang keine Strecke eröffnet wurde. „Es mag ja stimmen, dass der Metro-Bau durch unterirdische Wasseradern erschwert wird. Aber die Zeitungen machen kein Hehl daraus, dass eine Kette von Korruptionsskandalen die Vollendung der dringend benötigten Trassen verhindert.“

Die neuen Sklaven

Wenig später bewegen wir uns in Si Slimanis Renault Laguna zentimeterweise in Richtung Kolea, wo wir seine Freundin Fatiha besuchen, die eine Patisserie für traditionelles Backwerk betreibt. Unterwegs ist zu sehen, dass überirdisches Bauen offenbar besser klappt als unterirdisches. Der früher das Klima Algiers schützende Grüne Gürtel existiert nicht mehr. Der Beton frisst sich unaufhaltsam in die Mitidja-Ebene, wo er wertvolle Agrarflächen vernichtet. Planung gibt es dabei nur für den öffentlichen Wohnungsbau. „Obwohl wirklich viele Sozialwohnungen entstehen“, sagt Si Slimani, „ist der Bedarf lange nicht gedeckt. Ständig gibt es Proteste von Menschen, die sich bei der Verteilung übergangen fühlen. Eine Konsequenz unserer demographischen Sprünge. Die Bevölkerung hat sich seit der Unabhängigkeit vervierfacht! Aber die Leute haben noch nicht begriffen, dass Allah weder Wohnungen noch Arbeitsplätze schafft.“ Wir fahren auf einen Hügel, wo ein Viertel mit privaten Neubauten entsteht. Darunter sind auch Villen, vielstöckig und raumgreifend, außerdem dicht an dicht, so dass für Gärtchen oder Parks kein Platz bleibt.

An der Vorderfront werden riesige Garagen mit Eisentoren gebaut, nicht nur für PKW, auch für Lastkraftwagen. Der heute als erstrebenswert geltende Beruf vieler Algerier ist der des Zwischen- oder Endhändlers. Schließlich müssen die Waren, die importiert werden, irgendwie an das Volk kommen. Seit sich der junge Straßenhändler Bouazizi in Tunesien öffentlich verbrannte – ein Protestakt, der in Algerien mehrfach nachgeahmt wurde –, hat die Zahl nicht registrierter Händler auf Straßen und Plätzen sprunghaft zugenommen. Wie in Tunesien drückt auch die algerische Obrigkeit im Augenblick ein Auge zu. Si Slimani macht mich darauf aufmerksam, dass viele Gebäude im halbfertigen Zustand bleiben. „Früher schlug der Fiskus bei illegal errichteten Gebäuden hin und wieder zu. Dann blieb solch ein Bau als Ruine zurück. Die neuen Viertel sehen aber auch deshalb scheußlich aus, weil sich die Anwohner oft nicht einigen können, die Zufahrtswege gemeinsam asphaltieren zu lassen.“

Auf dem unbefestigten abschüssigen Pfad, auf dem Si Slimani seinen Renault auf die Hauptstraße zurückfährt, sehen wir drei gebückte Afrikaner, die in der Nachmittagshitze den Weg mit Spitzhacken bearbeiten. „Das sind unsere neuen Sklaven“, erklärt Si Slimani. „Sie wollten natürlich nach Europa, doch dafür fehlt ihnen das Geld. Es reicht nicht einmal für die Heimreise.“

Nicht wie in Syrien

Nach zwei Stunden sind wir in Kolea, eine Schnellbahn dürfte die 30 Kilometer in einer halben Stunde schaffen. Bei Fatiha lobe ich ihre frischen Mandel- und Nusskuchen. „Die Zeiten, in denen wir das traditionelle Gebäck mit Erdnüssen backen mussten, sind vorbei“, sagt sie zufrieden. „Werden die Zutaten ausnahmslos importiert?“ frage ich. „Ja, natürlich. Bei uns gibt es doch kaum noch Mandelbäume!“ Die köstlichen Wassermelonen, die danach auf den Tisch kommen, stammten wahrscheinlich aus Tunesien, bemerkt Si Slimani sarkastisch, „Eine Schande! Unsere Generäle haben nun mal kein Interesse für die Landwirtschaft.“ Fatiha erzählt, dass sie in den letzten Jahren öfter mit ihrer Familie in Tunesien Urlaub gemacht und die dortige touristische Infrastruktur genossen habe. Trotz ähnlich schöner Strände hat Algerien nichts Vergleichbares zu bieten. In diesem Jahr bleibt Fatiha wie viele andere lieber zu Hause. „In Tunesien ist es jetzt unsicher. Algerier sind in Tunis überfallen worden. Seit der Revolution traut es sich die Polizei dort nicht mehr, gegen Diebesbanden vorzugehen.“ Fatihas Bemerkung macht mich traurig. Offenbar kann die tunesische Regierung die Bevölkerung nicht mit Petrodollars befrieden. Als ich gegen Mitternacht aufbrechen will, zeigt sich, dass Fatihas beide Töchter noch nach Algier wollen – in einen Nachtclub. Jede von ihnen hat ein Auto. „Das Auto ist doch ihre Unabhängigkeit“, betont Fatiha augenzwinkernd. „Eine eigene Wohnung haben sie noch nicht, deshalb brauchen sie wenigsten ein Auto.“

In den nächsten Tagen entnehme ich den Zeitungen, dass nicht nur die tunesischen Sicherheitskräfte einen neuartigen Respekt vor dem Volk zeigen. Wie groß die Sorge der algerischen Regierung vor sich möglicherweise ausweitenden Rebellionen ist, zeigt der Umgang mit einem tragischen Ereignis bei Azzazga in der Kabylei. Am 24. Juni tötete das Militär bei einem Zusammenstoß mit der islamistischen Guerilla einen Zivilisten, der sich aus dem Konfliktgebiet in Sicherheit bringen wollte. Danach waren Soldaten in sein Haus eingedrungen, hatten es verwüstet und Gegenstände gestohlen. Wie in der Kabylei üblich, reagierte die empörte Bevölkerung umgehend mit Protestmärschen. Schon am Tag danach entschuldigte sich der Generalstab für den Vorfall und kündigte ein Verfahren gegen die Beteiligten an, das auch sofort eingeleitet wurde. Die Botschaft lautete: Algerien ist nicht Syrien!

Wie man hörte, war es das erste Mal bei diesem bereits zwei Jahrzehnte dauernden Konflikt zwischen Staat und Islamisten, dass sich führende Militärs für einen Kollateralschaden dieser Art umgehend entschuldigt haben und die Verantwortung übernahmen. Ein Zeichen, dass sich die Armee endlich zu einer republikanischen Institution mausert, die immer bereit ist, der Bevölkerung Rechenschaft abzulegen?

Wie man bislang mit solcherart Kollateralschäden umgegangen ist, ließ sich der Mitteilung entnehmen, die Familie des Getöteten werde aus dem Teil des Staatshaushalts entschädigt, der für „Opfer des Terrorismus“ vorgesehen ist. Unwillkürlich musste ich an Si Slimanis Worte über die unsägliche Verquickung von islamistischer und staatlicher Gewalt denken.

Sabine Kebir ist Schriftstellerin und Essayistin mit dem Schwerpunkt Nordafrika

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