Der Fall Wilma

Einbruch des Imaginären Katharina Höckers literarische Studie "In einem Mietshauskörper"

In den Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken des Daniel Paul Schreber, die Freud zur Grundlage einer großen Paranoia-Studie machte, schrieb der erkrankte vormalige Senatspräsident seine Gewissheit nieder: "Aller Unsinn hebt sich auf". Strahlen und sprechende Vögel verfolgten Schreber mit bedrohlichen Botschaften, und er, der durchaus den Unsinn des ihm Zugeraunten einsah, versuchte auf bewundernswerte Weise, aus diesem Unsinn einen Sinn zu machen. Dass solch ein Sinn in den Grenzen und Normen von Wissenschaft wie Alltag als Krankheit galt und gilt, steht auf einem anderen Blatt.

"Aller Unsinn hebt sich auf" - diese beschwörende Feststellung könnte ein Motto für die neue Arbeit von Katharina Höcker gewesen sein. Katharina Höcker, Jahrgang 1960, lebt in Hamburg. Sie schrieb Drehbücher, trat zusammen mit Komponisten und Komponistinnen auf, drehte einen Dokumentarfilm, sie arbeitet also fächerübergreifend. Ihr Schwerpunkt aber ist das Schreiben; in den letzten Jahren erschienen diverse Bände mit Prosa und Gedichten. Höckers jetzt bei Achilla erschienenes Buch In einem Mietshauskörper ist die eindrucksvolle literarische Studie einer psychischen Erkrankung. Der Band ist illustriert von Sabine Wilharm, deren Bilder das Thema "Körper - Haus" eigenständig darstellen und variieren.

Katharina Höckers Text selbst schildert eine Phase aus dem Leben Wilmas, einer sechsundvierzigjährigen Frau, die gerade von ihrem Mann Walter verlassen wurde. Er hat eine Mietwohnung für Wilma gefunden, wo sie, ohne Geld verdienen zu müssen, leben kann. Katharina Höckers Bericht setzt ein, als im Grunde schon alles geschehen ist, zu einem Zeitpunkt, als Wilma schon weit entfernt ist von den sicheren Ufern der Normalität: Wilma weiß, dass sie verfolgt wird, die wenigen Zeitgenossen, mit denen sie Kontakt hat, stecken unter einer Decke; sie befindet sich in Todesgefahr.

Der Mietshauskörper, in dessen "Augengeschoß", also ziemlich weit oben, sie lebte, dieser Mietshauskörper war, als sie dort einzog, eigentlich nur ein ekelhaftes, schmutziges Haus, ein "bulliges, schwer atmendes Gehäuse, das seine unförmige Körpermasse ... geradezu obszön in den Himmel stemmte." Von den Nachbarn sieht und hört Wilma entweder nichts oder nichts Gutes - man hat es also anfangs mit einer typischen Situation zu tun, solche Mietshäuser finden sich von Kiel bis Konstanz.

Ganz allmählich und in winzigen, dabei präzis und behutsam nachgezeichneten Wendungen und Windungen entwickelt sich bei Wilma das, was man klinisch und alltagssprachlich als Verfolgungswahn bezeichnet. Wer war da an ihrer Wohnungstür, um sie auszuspionieren? Warum sieht der Verkäufer sie so seltsam an? Es wird nichts sein, sagt sich Wilma; sie weiß, wie dünnhäutig sie ist. Eine Frage der Grunddisposition, die sich lebenslänglich fortsetzt, und in in ihrem Fall ist es die Mutter, die Schuld trägt an Wilmas Entwicklung: Schon als "Leibesfrucht" hat sie ihr massive Schäden zugefügt, heißt es einmal fast nebenbei. Vom Mutterleib in den Mietshauskörper, der - es gibt keinen Zufall, sagt Wilma - immer mehr zu einem alptraumartigen Ort wird. Es gibt Serien von erschreckenden "Lärmvorfällen". In der Wohnung werden scheinbar harmlose Worte bedrohlich oft wiederholt, im Spiegel zeigt sich eine ehemalige kranke Mitbewohnerin aus Studienzeiten, und dann findet Wilma im Keller, als sie waschen will, Beinstümpfe, Gliedmaßen und Rumpfstücke an einer Leine hängen, und sie weiß jetzt, dass sie unter Mördern und Irren lebt. Sie hält sich eine Weile mehr oder weniger auf der Straße auf, Geld genug hat sie, wobei sie verfügt, "dass im Falles ihres Ablebens sämtliches Geld mit ihr unter die Erde solle, denn sie müsse im Hinblick auf das Gewesene mit allem rechnen und brauche es deshalb noch."

Katharina Höcker lässt ihre Wilma dann noch einige gute Tage im Mietshauskörper erleben, Wilma zeichnet, und gegen die Krankheitskeime, die das Haus produziert, putzt sie aus Leibeskräften, bis das Hausgewebe eine abwehrkräftige, gesunde Hautschicht ausbildet. Das große Reinigungswerk hilft aber nicht auf Dauer, immer wieder kommt es zu "Besudelungsvorgängen", die "Spiegelperson" sendet Todesbotschaften aus den Augen, Wilmas eigener Mund strömt von Gerede über, und alle, Walter, die Mutter, die Nachbarn, alle Mörder und Irren wollen zum endgültigen Schlag gegen sie ausholen. Da entkommt Wilma nach draußen, und von dort aus erzählt sie ihre Geschichte. Wohin sie selbst nun geht, sagt sie, weiß sie noch nicht, das wird man sehen.

Das Thema "Frau und psychische Erkrankung" ist schon beinahe ein eigenes literarisches Sujet, man denke nur an Unica Zürns Haus der Krankheiten, an Ingeborg Bachmanns Der Fall Franza oder an die Glasglocke von Sylvia Plath; hinzu kommt eine Fülle von authentischen dokumentarischen Krankheitsberichten. Literarisch interessant sind die Texte besonders da, wo nicht "über" die Krankheit geschrieben wird, sondern wo das Schreiben vielmehr darauf abzielt, der Sprache des Körpers selbst, einschließlich seiner Beschädigungen, zum Ausdruck zu verhelfen.

Man merkt Katharina Höckers Arbeit an, dass die Autorin mit allen psychoanalytischen und poststrukturalistischen Theorien vertraut ist, ohne dass ihr Text wie eine literarische Illustration solcher Theorien wirkt - der Text kann ganz und gar für sich selbst stehen. Es ist in entscheidendem Maß die Sprache, die die Erzählung trägt, eine dichte Sprache, die geschmeidig wechselt zwischen Wahn und Wunsch, zwischen Entsetzen und leisem Witz. "Aller Unsinn hebt sich auf": In mäandrierendem und dabei disziplinierten, elaborierten Sprachfluss artikuliert sich die Ver-rücktheit, das Außer-sich-fallen, das Aus-der-Welt-stürzen. Das Mietshaus ist natürlich auch selbst der Körper, könnte auch der Körper der Mutter sein, es ist selbst die Krankheit - dieses Mietshaus steht, abstrakt formuliert, für den Einbruch des Imaginären ins Reale.

Jenseits solcher Deutungsansätze ist die Lektüre an sich faszinierend, oft bestürzend, sie zieht einen in Bann - aber man kann auch in schauderndes Lachen ausbrechen, etwa angesichts der durchaus vertrauten, ja, klischeehaften Strategie Wilmas, sich zu wehren: Gegen Schmutz, Krankheit und Gefährdung in jeder Form hilft den Frauen das Putzen, die große Reinigung. Schade, dass ein Teil der Kritik die Erzählung eins zu eins gelesen und die List des Textes nicht begriffen hat. So wurde der Protagonistin vorgeworfen, sie unternehme nichts "Vernünftiges" gegen das Mietshaus, und der Autorin hielt man vor, sie erkläre die Krankheit mit einer gescheiterten Ehe. Unsinn! Es macht vielmehr den Reiz von Katharina Höckers Arbeit aus, dass "Erklärungen" nur vorgezeigt, nur hochgehalten werden, um dann in den Windungen des Wahngebäudes zu verschwinden. In einem Mietshauskörper ist weniger eine Erzählung, als eine Versuchsanordnung, die Studie eines Rätsels. Das Wissen der Autorin von ihrer Figur ist kein "Durchschauen" im Sinne gewalttätigen Zuweisens. Vielmehr führt der Text selbst vor, dass noch in der Krankheit, in der Verstörung eine präzise Form der Artikulation gefunden wird, die auf Erkenntnis zielt: Aller Unsinn hebt sich auf.

Katharina Höcker: In einem Mietshauskörper. Erzählung. Mit Illustrationen von Sabine Wilharm. Achilla Presse, Hamburg 2003, 92 S., 18 EUR


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