Literaturzeitschriften sollen die Leser ermuntern, sich jenseits der ausgetretenen Pfade umzusehen, über das Kanonisierte oder Zeitgeistige hinauszugehen - und natürlich gibt es auch im »Vergangenen« immer noch Entdeckungen zu machen. Die Horen haben sich schon mehrfach dem nach wie vor zu wenig bekannten Autor Albert Vigoleis Thelen (1903 - 1989) zugewandt.
Über Thelen zu schreiben, heißt, über das Exil zu schreiben: Bereits 1931 verließ er Deutschland aus Unbehagen am »aufgedrungenen Vaterland«. Von Politik meinte er nichts zu verstehen, aber sein humanistisches Empfinden ließ ihn den aufziehenden Faschismus spüren und trieb ihn in die Flucht. Es wurde eine nahezu lebenslange Emigration daraus: 1931 - 1936 Mallorca, Flucht vor den spanischen Falangisten und deutschen Nazis in die Schweiz, dort Nachstellungen der Gestapo. 1939 - 1947 Exil auf dem Gut des portugiesischen Mystikers Pascoaes, 1947 - 1954 Wohnsitz in den Niederlanden, 1954 - 1986 Schweiz, 1986 - 1989 schließlich ein Altenheim in Deutschland.
Thelen veröffentlichte 1953 seinen großen, großherzigen, frechen und springlebendigen Roman Die Insel des zweiten Gesichts, für den er später mit dem Fontane-Preis geehrt wurde - aber er gilt, obwohl es so nicht stimmt, immer noch als ein Ein-Werk-Autor. Die Horen gehen den gelinde gesagt schwierigen Lebens- und Produktionsbedingungen Thelens nach und vermitteln das facettenreiche Bild einer Existenz, die ganz offensichtlich »mit beiden Beinen fest in der Luft« stand. Man muss sich unter diesem Autor wohl unter anderem auch den weltfremden Kauz vorstellen, der seine Eigenart hütete und schützte, der also alltäglich permanent aus allen Wolken fiel. Aber er hatte seine Frau Beatrice, die ihn am Boden auffing. Die anscheinend gute und glückliche Ehe ist bekannt, aber über Beatrice und ihre Arbeit als Organisatorin und eigenständige Übersetzerin hätte man sich in dem Band mehr Informationen gewünscht. Wobei das Material, das hier zusammengetragen wurde, dermaßen umfangreich ist, dass man ohnehin mühelos zwei Ausgaben hätte füllen können. Die Horen veröffentlichen hier unter anderem Briefe Thelens, die belegen, was etwa sein früherer Verleger Helmut Frielinghaus seinerzeit an die Konzernleitung des Claassen-Verlags sinngemäß schrieb, bevor er den Verlag verließ: Der Roman Die Insel müsse andauernd zugänglich bleiben, und auf längere Sicht sei es wünschenswert, aus Thelens Briefen ein Buch zu machen. Im Horen-Band liest man dann etwa, wie Thelen sich mit den deutschen Behörden in den 50er oder 60er Jahren herumschlagen musste: Gegen eine Wiedergutmachung sprach anscheinend die Tatsache, dass er und andere das Dritte Reich überlebt hatten. Der Begriff der »Wiedergutmachung« hat der Rezensentin nie eingeleuchtet. Auf Thelen bezogen, muss man sagen: Hier klagt einer nicht über das, was ihm widerfuhr. Eher beiläufig erfährt man in den Briefen, unter welchen Bedingungen er und seine Frau das Leben fristeten. Was im Insel-Roman zu Literatur gearbeitet und geformt wurde, was literarisch also zur Schönheit wurde, muss alltäglich Schrecken, muss eine nicht abreißende Not gewesen sein. Dürftigste Unterkünfte, mangelhafte Ernährung, Todesdrohungen, Tuberkulose und andere Krankheiten, zermürbendes Gerenne um Genehmigungen und Pässe, dazu das immer wieder durch Behörden spürbare Unerwünschtsein in den jeweiligen Gastländern.
Unter diesen Bedingungen entstanden Übersetzungen, entstand die Insel, aus der Thelen übrigens 1953 bei einer Tagung der Gruppe 47 vorlas. Der Horen-Band dokumentiert und diskutiert, was bei diesem Treffen losgewesen sein mag, dass der der Literatur des »Kahlschlags« so fremde Thelen seinerzeit mehr oder weniger abgekanzelt wurde. »Emigrantendeutsch« wurde ihm von Hans Werner Richter vorgehalten, ein abwertender Begriff, der den Autor tief verletzt haben muss. Dabei weist ein Beitrag von Stefan Wieczorck an konkreten, aufmunternden Beispielen nach, was Thelen selbst sagte: »Meine Sprache ist gerade dadurch, dass ich Deutschland verlassen habe, reicher geworden.«
Die Horen sind bekannt dafür, welch vielfältige Zugänge sie zu einem Autor öffnen. Auch im neuen Heft wechseln Originaltexte, Fotos, Erinnerungen von Freunden und Bekannten mit literatur- und gesellschaftsanalytischen Texten ab. Einige Beiträge zeichnen sich durch ihre Lust am sprachschöpferischen »vigoleisen« aus, andere berühren durch die Sorgfalt und Wärme, mit der des Autors und seiner Arbeit gedacht und die eigene Erinnerung wiederbelebt wird - hier sei noch einmal auf Helmut Frielinghaus hingewiesen, der an anderer Stelle erzählt, wie begierig die verbotene Insel in Franco-Spanien 1953 von Buchhändlern gelesen und unter der Hand verkauft wurde. Und Maarten ´t Hart war dabei, als Thelen von einer misslungenen Audienz bei Johannes XXXIII. berichtete: Der Papst war dann doch zu beschäftigt, um sich von einem hergelaufenen Autor fragen zu lassen, warum er die »Gaskammerpolitik« seines Vorgängers nicht verurteilt habe.
Ein bisschen schwieriger verhält es sich mit den Briefen Thelens an den oben erwähnten portugiesischen Mystiker Pascoaes, die beim Weidle-Verlag erschienen sind. Thelen hat diesen radikalen Autor für sich entdeckt, war fasziniert von seinem »Protest der Religion gegen die Kirche«, von der »Theologie als Gottesmörderin« und von der Vorstellung, es gebe einen göttlichen Atheismus, zumal der Mensch eine Sünde Gottes sei. Thelen übersetzte Pascoaes unter den oben genannten Bedingungen und setzte sich mit aller Kraft dafür ein, dass dessen Bücher im deutschsprachigen Raum, in den Niederlanden und andernorts erscheinen konnten.
Die Briefe Thelens an Pascoaes aus den Jahren 1935 - 1952 vermitteln eine Ahnung, was es in den Exiljahren bedeutete, sich mit etwas so Abseitigem wie mit der Publikation von Büchern zu beschäftigen: Übersetzungsdetails müssen abgesprochen werden, aber die entsprechenden Briefe erreichen den Adressaten nicht oder brauchen wochenlang, weil ja auch Thelens Unterkünfte wechseln. Lexika sind nicht oder nur mühsam zu beschaffen. Verleger machen Zusagen und ziehen sie zurück, auch sie sind Opfer der jeweiligen politischen Situation. In der Nachkriegszeit wird nicht alles gleich leichter; in Holland zum Beispiel herrscht wie andernorts Papiermangel, der Kürzungen von Büchern erzwingt; die Druckereien haben derartig veraltete Maschinen, dass der Druck eines Buches Monate dauern kann, und bei alldem kann Thelen froh sein, wenn ihm eine Hausherrin eine Tasse leiht, allerdings nur für einen Tag. Es sind diese Kleinigkeiten, die man gerade von hier und heute aus ziemlich fassungslos liest; ansonsten ist die Lektüre des Bandes anstrengend durch die vielen Wiederholungen, die den Alltag ja tatsächlich so zermürbend machten. Seltener als in der Auswahl von Briefen, die der Horen-Band vorstellt, findet man hier den verspielten Thelen, der auf jeden Schlag mit einem sprachlichen Purzelbaum reagiert - hier spricht häufiger einfach ein engagierter, dabei besorgter, überanstrengter Arbeitsmensch, der dem »lieben Freund« unter allen Umständen zur Veröffentlichung und zur Anerkennung seines Werks verhelfen will.
Lauter Vigoleisiaden oder der zweite Blick auf Albert Vigoleis Thelen. Die Horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik. Zusammengestellt von Jürgen Pütz. Redaktion Johann P. Tammen, NW-Verlag für neue Wissenschaft GmbH, Postfach 101110, 27511 Bremerhaven. Band 199, 440 S., 28,- DM
Albert Vigoleis Thelen: Briefe an Teixera de Pascoaes«. Hrsg. António Candido Franco. Aus dem Spanischen und Portugiesischen übersetzt von Ulrich Kunzmann. Weidle-Verlag, Bonn 2000, 160 S., 38,- DM
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