Folgen eines Unfalls

Amnesie ­Joachim Zelters freundlicher Roman über einen überraschend verwandelten Politiker zeigt, wie Sachzwänge und Rollenmodelle ein Subjekt zum Objekt zurichten

Der Ministerpräsident Urspring hat einen Autounfall überlebt und erwacht mit großen Gedächtnislücken und Verständnisschwierigkeiten aus dem Koma: War er verheiratet? Muss man eine Frau haben? Kann man nicht ebenso gut auch ein Fahrrad haben? Sein Berater März erklärt ihm, er wolle ihn so schnell wie möglich wieder fit für sein Amt machen. Doch Urspring stellt sich unorthodoxe neue Fragen: Ist ein Ministerkabinett so etwas wie ein Raritätenkabinett? Keinesfalls, sagt März. Mit wohl tönenden Worten umreißt er Politik und Partei; Urspring nickt, auch wenn er sich nicht einmal erinnert, für welche Partei er steht.

Joachim Zelter, Jahrgang 1962, hat einen unterhaltsamen und komischen Roman über die ganz normalen Rituale und Zwänge im politischen Betrieb geschrieben, eine Parabel auf die Entstellungen im Inneren der Macht. Schon in seinen vorausgehenden Romanen How are you, Mister Angst und Schule der Arbeitslosen setzte er sich mit der Stellung des Individuums in Institutionen auseinander, ob es nun um die Struktur der Universität oder um das System der Fortbildung für Arbeitslose ging.

Der neue Roman Der Ministerpräsident leuchtet auf beinahe märchenhaft wirkende Weise aus, wie Sachzwänge und Rollenmodelle innerhalb der politischen Klasse ein Subjekt zum Objekt zurichten. Und er schildert den Protest eines lädierten, durchgeschüttelten Bewusstseins dagegen – das in Ursprings Fall in vieler Hinsicht klarer ist als das derjenigen Politiker, die einfach nur gut funktionieren wollen.

Von Bierbank zu Bierbank

Gegen den Willen seiner Ärztin wird Urspring tauglich für den nächsten Wahlkampf gemacht. Das beginnt mit der Körpersprache, denn schon das Gehen eines Spitzenkandidaten müsse etwas vermitteln, erklärt März: sportliches Eilen, energisches Vorwärtskommen oder bedeutendes Schreiten. Auch habe Urspring leider seine schwäbische Aussprache verloren; er solle diesen Dialekt bloß wieder einüben, denn der wirke wie ein Sprechen von Bierbank zu Bierbank, beruhigend und gleichzeitig bescheiden. Ursprings Wahlkrampfreden dürfen keinesfalls Inhalte enthalten; alles Denken müsse vermieden werden. Und so schneidet die Tontechnikerin Hanna sorgfältig komponierte Ansprachen zusammen, die bei den Auftritten abgespielt werden – Urspring muss dazu nur noch die synchronen Lippenbewegungen vorführen.

Wahlkampfreise durchs Ländle, hier eine Grundsatzrede, da eine Autogrammstunde. Ansprachen gegen den Borkenkäfer oder für Europa – egal. Wahlkampf sei ein Kampf um Bilder, erklärt der Berater, und Politik lasse sich ohnehin nur als ästhetisches Phänomen rechtfertigen. Der Ministerpräsident, gutwillig und naiv wie ein Kind, will alles richtig machen. Manchmal funktioniert das nicht; ein sportiver Auftritt mit dem Rad, schön und gut, aber warum musste er dabei im Kreis um eine Blaskapelle herumfahren wie ein Gassenjunge?

März kann die einstudierten Reden nicht oft genug kontrollieren, immer wieder entgehen auch ihm Fehler. Da hat Urspring doch glatt behauptet, „wir brauchen wieder Versionen“ – die Ansprache muss also noch einmal aufgenommen werden. Hanna ist überarbeitet und frustriert, und so beschließt sie eines Nachts, mit dem Rad loszufahren; Urspring schließt sich ihr gern an. Der kleine Ausflug wird zum Ausbruch. Die beiden behelmten und bebrillten Radfahrer werden nicht erkannt, tagelang schweifen sie frei durch die Gegend, bis sie aufgespürt werden. Bei der anschließenden Verfolgungsjagd ereignet sich erneut ein Unfall. Hanna stirbt, der Ministerpräsident kommt ins Krankenhaus; März erklärt ihm, er werde seine Amtsgeschäfte bald wieder aufnehmen können.

Überladenes Eselchen

Es sind die schrägen, genießerisch geschilderten Details, die bei der Lektüre Vergnügen machen. Urspring soll auf diversen Fotos seine Amtskollegen erkennen und findet, einer sehe aus wie ein überladenes Eselchen. Unwesentlich, urteilt März darüber. Als es um Ursprings möglichen Rücktritt geht, erregt sich der Berater: „Dass ein Ministerpräsident nie allein abtrete, sondern mit seinem Abtritt unzählige Menschen mit sich reiße. Dass er, März, verheiratet sei und Kinder habe. Dass unzählige Mitarbeiter verheiratet seien und Kinder hätten.“

Ein charmanter, flüssig geschriebener Roman, der bei vielen Einzelheiten lachen lässt. Allein, wenn man das Ganze im Auge hat, muss man sich eingestehen: Der Plot ist sehr schnell klar, und das dauernde augenzwinkernde Einverständnis, das der Autor mit dem Leser sucht, kann dem Leser bald zu viel werden. Ist es tatsächlich so einfach mit der Aufspaltung in den zu kindlicher Unbefangenheit geläuterten Urspring und den in bürokratische Zwänge verstrickten seelenlosen März? Was ist so neu an der Erkenntnis, dass Politiker austauschbar sind? Schon Erich Kästners Die Schule der Diktatoren führte im Jahr 1957 Politiker als Marionetten vor, die nach Attentaten problemlos durch Doppelgänger ersetzt wurden. Und weiter: Natürlich sind auch Politiker Menschen mit Hühneraugen, Liebeskummer und schrägen Fantasien. Was ist an deren Selbstvermarktung und an der Bereitschaft, sich bizarren Rollenbildern zu unterwerfen, besonders erstaunlich? Die Repräsentanten des Volks haben etwas von ihrem Status, sie genießen Privilegien, die anderen verschlossen bleiben. Aber auch große Teile der Bevölkerung sind bereit zu Selbstdressur und Selbstinstrumentalisierung, Stichwort Reality-Shows: Bei dieser Form der Selbst-Zurichtung bleibt einem allerdings das Lachen im Hals stecken; dessen Publikum sieht sich nicht mehr in einem Urspring vertreten, sondern im jeweils neuen Superstar. Nun gut, dieses Phänomen von Entfremdung ist nicht Zelters Thema. Sein komisches, dann wieder melancholisches Buch wird kein Sand im Getriebe sein, es schlägt keinen Krach. Man kann es getrost auch Leuten aus den politischen, ökonomischen und medialen Führungsetagen auf den Nachtisch legen. Sie werden sich verstanden fühlen und mit Urspring identifizieren können.

Der MinisterpräsidentJoachim Zelter Roman Klöpfer & Meyer 2010, 190 Seiten, 18,90

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