»Ihr werdet die Welt nicht mehr verstehen«

Geschichten statt Geschichte Kerstin Hensels neuer Roman »Im Spinnhaus« zielt aufs Befremden

Ein »Heimatroman«, ein »Provinzroman«: Kerstin Hensels neues Buch Im Spinnhaus spielt im Sächsischen, im Erzgebirge, es umfasst die Jahre vom Kaiserreich bis ins Jahr 2003, und es verknüpft in loser Folge, allerdings nicht chronologisch, Elemente aus dem Leben einzelner Spinnhäusler. Das Spinnhaus selbst, 1860 erbaut, ist von Anfang an verschrieen: Es ist ein Hort der Ausbeutung, Arbeit und Krankheit für die Spinner, die dort wohnen und arbeiten. Auch nachdem die Fabrik selbst schließt, bleibt das Haus eine Sammelstelle für mehr oder weniger Verrückte, Außenseiter, schräge Vögel.

Die Klöpplerin Uhlig Trulla, Jahrgang 1900, lässt sich mit knapp sechzig Jahren schwängern, sie ist schwanger noch nach einem Jahr, noch nach zehn Jahren, noch heute. Der Mann der Kindergärtnerin Handschuk will in übergroßer Liebe alles von ihr wissen und forscht sie aus, kontrolliert sie, jagt sie, bis sie an Liebe und Sozialismus zweifelt, den Mann verlässt und aus der SED austritt. Förster Heinsch soll von den Russen gekocht und gegessen worden sein. Ein Mann klöppelt um sein Leben, ein anderer denkt angesichts des Bluts von Hingerichteten an Pflaumensaft. Als 1968 ein Dorfkino eingerichtet wird, beschließen zwei Mädchen, nach Amerika zu wandern, das einige Tagesmärsche entfernt liegt. Der Schüler Wolzack Roland trägt in DDR-Zeiten mit Hilfe seiner Fotografien zur Entlassung eines unbotmäßigen Lehrers bei und kommt im Jahr 2003 bis nach New York. In diesem Jahr beginnt die alte Fiedlerin, wieder im Spinnhaus zu spinnen, und zwar im Auftrag des Arbeitsamtes, das auf wirtschaftlichen Aufschwung über den Tourismus hofft. Die Besuchermassen bleiben aus, niemand will das Gesponnene, also wird es als Sondermüll entsorgt.

Kerstin Hensels neues Buch bietet, oberflächlich betrachtet, das an, wonach sich die Leser angeblich oder tatsächlich verzehren: Scheinbar wird hier die Forderung nach dem generationsübergreifenden und geschichtsträchtigen Roman erfüllt, einem Roman, der erzählt und fabuliert; einem Roman, der gern ein bisschen magischen Glanz enthalten darf und in dem man schließlich auch sich selbst wiederfinden kann, eingebunden in eine beruhigende und gleichzeitig gewichtige Kontinuität.

Aber bei Kerstin Hensel ist Geschichte, ist auch fabelhaftes nicht so einfach zu haben. Was mitunter wie ein leichtes, manchmal fast beliebiges Spiel mit historischer Wirklichkeit und mit Traum, mit Märchen und Legenden wirkt, löst Ratlosigkeit, Beunruhigung, Befremden aus. Das liegt einmal daran, dass es keinen lückenlosen, keinen breiten Erzählfluss gibt, auf dem man dahinschaukeln könnte; es gibt keine kontinuierlich voranschreitende Handlung. »Identifikationsangebote« werden sich kaum finden lassen. Dazu kommt, dass dieses fragile Spinnennetz aus Geschichten, die »die« Geschichte umkreisen, dann auch nicht die Art Heimatroman darstellt, wie man ihn sonst von kritischen Geistern kennt. Der »negative«, der kritische Heimatroman zeigt, dass im Heimeligen, Vertrauten das Bedrückende, Bedrohliche, Dumpfe, Brutale steckt - und diese Elemente gibt es bei Kerstin Hensel natürlich. Ihr Roman will aber nicht lediglich »entlarven«, er will nicht machen, dass der Leser es besser versteht, vielmehr zielt er aufs Befremden. »Ihr werdet die Welt nicht mehr verstehen«, sagt ein Lehrer zu seinen Schülern. Das ist ein Versprechen, und Kerstin Hensels Buch setzt dieses Versprechen in Szene. So ist der Text voll Überraschungen. Er lockt mit anschaulicher, konzentrierter, kräftiger Sprache. Er lädt ein, sich in Schnurren zu vertiefen - aber die kippen ins Groteske, manchmal ins Ungeheuerliche. Das Buch stößt die Leser vorsätzlich vor den Kopf, und zwar in besonderer Weise durch die Distanz, mit der hier ungerührt Vorgänge und Phänomene miteinander verflochten werden, die man so nicht immer zusammengebracht sehen wollte. Wann haben hungrige wildgewordene Provinzler ihre jüdischen Nachbarn in der Art umgebracht, die hier zu lesen ist? War das im Mittelalter, war das »gerade eben«, nach dem letzten Weltkrieg? Ist das ein Alptraum, ist das nur die normal entfesselte Wirklichkeit, was ist von diesen Leuten zu halten, die dem Leser eben noch als freundliche, etwas skurile Stollenbäcker entgegenkamen?

Kerstin Hensel erklärt nicht. Sie psychologisiert nicht. Wenn es überhaupt einen roten Faden geben soll, der durch dieses Geschichtennetz gewoben ist, läuft er vielleicht auf Folgendes hinaus: Die Geschichten normaler kleiner Leute werden gespenstisch, wenn sie sich mit der großen Geschichte verzahnen. Aber damit hätte man schon wieder eine Erklärung, eine These, und die Rezensentin vermutet, dass Kerstin Hensel vielmehr schreibt, weil sie an dem interessiert ist, was Erklärungen überschreitet und unterwandert. Ihr Buch lässt Momente aufscheinen, Augenblicke, die durchaus bedeutungstragend wirken. Hier wird ja mit Stichwörtern und Klischees gearbeitet, die bekannt sind: Industrialisierung, Weimarer Jahre, Faschismus, Realsozialismus, Wendezeit - aber die durcheinandergewirbelten Augenblicke sind nur das, sie sind nichts als reine Augenblicke, und insofern ist das Buch antisuggestiv.

Und in dieser Haltung wirkt der Text noch radikaler als vorausgegangene Arbeiten wie Gipshut (1999) oder das 1991 leider zu wenig beachtete Auditorium Panopticum. Das Lachen wird auch im neuen Buch als ein Mittel gegen die Schrecken der Geschichte eingesetzt; man findet eine Fülle von frechen Anspielungen, von sonder- und wunderbaren Vergleichen, von wohltuend höhnischen Seitenhieben in alle Richtungen - aber das Ende, wenn man denn den Abbruch des Buches so nennen wollte, lässt einem das eigene Lachen im Hals stecken bleiben. Wolzack, Fotograf, ein kühl geschilderter, ewig anerkennungsbedürftiger, geschmeidiger Anpasser, ein Provinzheini, ein hochfahrender Künstler, der Großes aus Kleinem zu destillieren gedenkt, steht auf einem New Yorker Gebäude in 390 Meter Höhe. Er fürchtet nichts. »Ihn wollte einfach nichts schwindeln machen.« Ist das schlicht und einfach Ironie über einen Dörfler in der großen Stadt? Ist es der Spott über das Große, geht es darum, dass »Welt« überall ist, nicht nur in New York? Aber vor allem: Was ergibt sich, wenn man die beiden hier hervorgehobenen Sätze nebeneinander stellt: »Ihr werdet die Welt nicht mehr verstehen« und »ihn wollte einfach nichts schwindeln machen«? Die Welt nicht verstehen und sich dabei nicht fürchten und nicht schwindelig werden; das ergäbe eine (Text-) Figur, die wäre tief unheimlich. Oder soll man sagen, mit dieser zugegebenermaßen hier konstruierten Textfigur wird auf eine neue Qualität in der allgemeinen gegenwärtigen Befindlichkeit hingewiesen?

Vielleicht ist das zu viel gemutmaßt und gedeutet. Immerhin zeigt sich, dass man mit diesem Buch nicht so schnell fertig wird. Es wirft Fragen auf, bleibt widerspenstig.

Kerstin Hensel: Im Spinnhaus. Roman. Luchterhand, München 2003, 256 S., 19 EUR

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