Das System "Diktatur" zielt auf die Gleichschaltung von Individuen, es will die jeweilige Bevölkerung gesichtslos, einförmig und austauschbar machen - und die Arbeit zahlreicher Autoren, die sich mit einer Diktatur auseinandersetzen, besteht darin, der Maschinerie des totalen Staats immer wieder eine einzelne Stimme, ein einzelnes Gesicht gegenüberzustellen, und sei es auch zerstörbar.
Aldous Huxley beispielsweise hat in seinem Roman Schöne neue Welt eine Gesellschaft anästhesierter "Glücklicher" gezeichnet. Bei ihm ist es die Figur des Wilden, der den perfekten Bürgern gegenüber auf Unfassbarem besteht: Der Wilde schreit nach Gott, Poesie, nach Sünde und Freiheit. Er scheitert, und doch ist dieses Scheitern als Selbstbestimmung und Protest zu verstehen.
Ist ein Kind so etwas wie ein Wilder? György Dragománs zweiter Roman Der weiße König spielt im Rumänien der achtziger Jahre, und er ist aus dem Blickwinkel eines etwa elfjährigen Jungen geschrieben. Dabei vermeidet der Autor den naiven Tonfall, der so oft und falsch mit der "unschuldigen" Kindheit verbunden wird. Das Buch ist daher weit mehr als die realitätsgetreue Abbildung einer Kindheit in den Jahren unter Ceaus¸escu: Man hat es hier mit einem konzentrierten, kunstvoll kalkulierten, verstörend harten Text zu tun. Kafka sagte einmal, Literatur müsse die Axt für das gefrorene Meer in uns sein; und dieser Forderung folgt Dragomán.
Er splittert den Alltag des Jungen in kurze Episoden auf, die mit lakonischen Titeln versehen sind: "Tulpen", "Sprung", "Weltende", "Tunnel" oder "Hausdurchsuchungsspiel" heißen sie. Die verdichteten Szenen einer Kindheit werden allerdings immer von etwas Surrealem, Alptraumhaften durchweht - als seien die Figuren von einem Augenblick zum nächsten Bewohner einer Unterwelt geworden. Möglicherweise liegt der Schrecken gerade darin, dass Ort und Zeit eben nicht Unterwelt und Nacht sind, sondern Stadt und heller Tag.
Unbeeindruckt und ganz selbstverständlich gebraucht der elfjährige Dzsata Ausdrücke wie "politisch unzuverlässig" oder "staatsfeindliche Sabotage". Aber als sein Vater plötzlich abgeholt wird, begreift er nicht, was das bedeutet. Erst allmählich deutet er das Gewirr der Gerüchte richtig; der Vater wurde in einem Arbeitslager interniert. Der Großvater, ein Parteisekretär, denkt nicht an Hilfe. So versucht der Junge allein, seine Mutter zu unterstützen; einmal begleitet er sie zu einem "Genossen Botschafter", um - vergeblich - herauszufinden, was aus dem Vater geworden ist.
Dabei stiehlt Dzsata im Nebenzimmer den weißen König eines Schachautomaten. Dieser König funktioniert manchmal als geheimer Glücksbringer. Er könnte im Roman auch symbolisch für den abwesenden Vater stehen, aber Dragomán vermeidet es, seine Bilder mit Bedeutung zu überfrachten. Schrecken und Groteske lauern in diesem Roman überall und werden quälend verstärkt, weil die Figuren auf Grausamkeit und Schrecken eben nicht erschrocken oder protestierend reagieren - für die innerlich gefrorenen Leuten ist buchstäblich alles vorstellbar. Ein Lehrer drillt erbarmungslos die Schüler auf dem Fußballfeld - dass er sie teilweise schon blutig geschlagen hat, wird unter der Hand klar - und dann erscheinen Soldaten. Sie sollen die vom Reaktorunfall in Tschernobyl herrührende Radioaktivität messen und raten den Jungen, Ballkontakt zu meiden. Wie sollen sie dann Fußball spielen? Keine Antwort. Der Sport hat stattzufinden - wie immer.
Die hier geschilderte Gesellschaft ist verschlagen, zynisch, skrupellos und brutal. Opfer und Täter lassen sich nicht voneinander trennen. Die Erwachsenen lassen ihre Wut und Verzweiflung an den Kindern aus, aber auch die sind keine Unschuldslämmer. Sie wissen genau, wie man erpresst, verrät, wie man Gewalt ausübt. Das repressive System ist nichts Äußerliches. Daher kann der Elfjährige ganz selbstverständlich mit seinem eigenen Verschwinden rechnen: Als Sohn von "Staatsfeinden" selbst politisch verdächtig, stellt er sich vor, wie sein Bild aus dem Klassenfoto retuschiert wird - so wie auf einem Bild diverser Generäle, die Gesichter derjenigen, die in Ungnade fielen, geschwärzt wurden.
Bei allem Grauen gibt es in diesem Roman Momente, die auf einen unzerstörbaren Kern im Menschen hoffen lassen. Etwa als sich der Bauarbeiter Spitzhacke bei dem Jungen für einen bösen Scherz entschuldigt. Er und seine Kollegen hatten Dzsata versichert, seinen Vater getroffen zu haben. Er sei ganz in der Nähe, gehöre zu ihrem Trupp. Spitzhacke zeigt dem Jungen seine Hütte, in der er eine Schar Vögel hält. Beide bewundern ihren Gesang, bis der Arbeiter dem Kind erklärt: "Was wir als schöne Musik wahrnehmen, sei in Wirklichkeit nur Geschrei, ein Fluchen und Drohen."
Es ist gewagt, zu sagen, für Dragománs Roman gilt die Umkehrung: Das Schreien, Fluchen und Drohen der Figuren wird hier selbst zu einer Musik. "Gewagt" ist das, weil der Autor reale zeitgeschichtliche, traumatisierende Erfahrungen thematisiert. Und doch findet der Roman zu einem Ausdruck, zu einer Form, die über die Tatsachen hinausreicht. Dragomán zeigt die ungeheuerliche, drückende Gewalt und Absurdität der Diktatur - und doch entsteht hier eine Art von Musik. Sie ist durchdringend, schneidend und dabei eigenartig leicht.
Am Schluss bricht der Exzess aus. Der Junge wagt einen rasanten, absurden Aufstand: Als sein Großvater beerdigt wird, führen Gefängnisaufseher den gefesselten Vater herbei. Der blanke Furor beherrscht die Szenerie. Die Sprache des Romans, die über weite Strecken hinweg mäandriert, sich staut, dann plötzlich ruckartig beschleunigt, stürmt jetzt unaufhaltsam voran: Der Junge sieht das weiße Knochengesicht des Vaters, er will ihn befreien und schlägt sich durch die aufgestörte schreiende Trauergemeinde, während die Wächter den Häftling schon fortschleifen. Ein wildes, wild gemachtes Kind, das in seinen erhobenen Armen eine Brechstange hält und dem Gefangenentransporter mit dem Vater nachrennt, immer schneller und schneller.
György DragománDer weiße König. Roman. Aus dem Ungarischen von Lazslo Kornitzer. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008, 280 S., 19,80 EUR
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