Auf Befehl der Verwaltung ziehen die Bewohner eines Provinzstädtchens an einem Frühlingstag 1979 ins Stadion, um einer „Denunziationszeremonie“ beizuwohnen. Shan Gu war als Jugendliche eine leidenschaftliche Rotgardistin, bevor sie Zweifel an Maos Politik bekam.
Ihr Freund verriet die 18-Jährige, die danach zehn Jahre Gefängnis absaß. Jetzt wird sie, weil sie immer noch keine Bußfertigkeit zeigt, zum Tod verurteilt; vor der Hinrichtung führt man sie zur Denunziationszeremonie. Ihr Vater, der Lehrer Gu, muss die Kugel bezahlen, mit der die 28-jährige Shan erschossen wird.
Yiyun Li, Jahrgang 1972, lebt seit 1996 in den USA. Sie schrieb ihre bisherigen Erzählungen, wie auch den ersten Roman Die Sterblichen auf Englisch: Englisch sei für ihr Schreiben einerseits die Muttersprache geworden, andererseits erlaube es größere Distanz zum Stoff, sagte sie in einem Interview.
Einer der Auslöser, einen Roman über das China Ende der siebziger Jahre zu schreiben, liegt in der Erinnerung an die Scham, die sie selbst als kleines Mädchen empfand: Sie sah einen Film, in dem ein Kind sein Leben für die Revolution gab, und sie weinte, statt sich über sein Heldentum zu freuen. Sie schämte sich für die Tränen: Schon die Kinder wussten, dass nicht nur das eigene Handeln linientreu zu sein hatte, sondern auch das Denken und die Gefühle.
Yiyun Li schildert Menschen, die sich in einer Diktatur auf absurde Weise verrenken müssen, um zu überleben. Shans Vater, der Lehrer Gu, bedauert, dass er seiner Frau und der Tochter das Lesen beibrachte. Wozu soll Bildung dienen, wenn sie die Tochter erst in die Arme fanatischer Rotgardisten trieb und sie, als sie selbständig zu denken lernte, dazu brachte, ihrem Freund kompromittierende Briefe über Politik zu schreiben?
Shans Mutter bringt sich in Gefahr, als sie die traditionellen Totenrituale für ihre Tochter durchführt; und doch fragt sie sich, ob mit Shans Tod jetzt endlich eine Schuld gesühnt worden ist, die auch sie und ihr Mann zu spüren bekamen: Viele Nachbarn hassten Familie Gu, weil Shan und ihre jugendlichen Genossen sie während der Kulturrevolution quälten und demütigten.
Die Rundfunksprecherin Kai, eine gut verheiratete junge Mutter und bisher ein loyales Mitglied der Partei, hat von einer „Mauer der Demokratie“ in Bejing gehört; jeder soll dort seine Meinung öffentlich machen dürfen. Davon inspiriert, versucht sie mit anderen, Shan zu rehabilitieren. Flugblätter tauchen auf und laden zu einer Gedenkveranstaltung ein.
Die Einwohner der Stadt sind hin- und hergerissen. Selbst Kinder wie der Junge Tong und das behinderte Mädchen Nini finden es einleuchtend, dass Meinungen diskutiert werden sollen; dagegen steht das Wissen, dass man in großen Zeiten am besten klein und bedeutungslos wie ein Sandkorn sein sollte. Es heißt aber auch: Tausend Sandkörner ergeben einen Turm. Gemeinsam könnte man gegen ein ungerechtes Urteil protestieren.
Kapitulation als Tugend
Gerüchte kursieren: Hat man Shan, bevor sie hingerichtet wurde, eine Niere transplantiert, um einen hohen Kader das Weiterleben zu ermöglichen? Und warum hat sie in den beiden letzten Jahren im Gefängnis den Verstand verloren? Der Chirurg, der die Transplantation durchführte, beruhigte sein Gewissen; er wird zum Chefarzt ernannt, er hat das Wohl seiner Familie im Auge.
Lis kühler und dabei zornbebender Roman, der reich an Figuren und immer neuen Handlungssträngen ist, wirft an mehreren Punkten schlaglichtartig die moralische Frage auf, ob und wie sich der Einzelne integer verhalten kann – die chinesische Gesellschaft ist ja nicht nur durch die Diktatur geprägt, sondern auch durch das materielle Elend, das die Leute gegeneinander kämpfen lässt.
Säuglinge werden ausgesetzt und Töchter als Kindsbräute verkauft; die Mutter von Nini fragt ihre Kinder, ob sie nicht endlich tot sein könnten. Wie in Brechts Stück Der gute Mensch von Sezuan werden unlösbare Ambivalenzen aufgezeigt; Kapitulation kann in Lis Roman als Tugend gelten, Mitgefühl als Sünde.
Nachdem Kai und ihre Freunde die Gedenkveranstaltung für Shan organisiert haben, fällt eine gesichtslose Bürokratie über die Bewohner der Provinzstadt her. Es gibt Massenverhaftungen und Folter; mehrere Leute, so Gus Frau, verschwinden. Kais Ehemann lässt sich von ihr scheiden, er wird eine Selbstkritik veröffentlichen, um Strafe bitten und sein Leben in die Hände der Partei legen.
Sie selbst wird hingerichtet werden; vorher bleibt ihr noch Zeit für ein Gespräch mit der eigenen Mutter, die ähnlich argumentiert wie der Lehrer Gu: Kai hat ihren kleinen Sohn durch die Scheidung verloren, hat Schande über die Mutter gebracht, der man vorwirft, sie schlecht erzogen zu haben – was soll also gut an ihrem Widerstand gewesen sein?
Die Entwicklung, auch die Integrität von Gestalten wie Shan oder Kai wird von Anderen als eine Form von Gewalt erlebt. Ist man der Familie verantwortlich, oder nur sich selbst, oder einer schnell wechselnden „guten Sache“? Lehrer Gu stellt fest: „Diese Ära ist das Knirschen unserer Knochen, die vom Gewicht leerer Worte zermalmt werden.“ Und: „Ihr seid Schlächter an einem Tag, und am nächsten seid ihr das Fleisch auf der Schlachtbank.“
Der Roman wirkt auch deshalb so beklemmend, weil alle Gestalten selbstverständlich und ungerührt in absurden Verhältnissen leben – sie sind normal. Die hier beschriebenen Ereignisse liegen 30 Jahre zurück, und angesichts des heutigen China mit seinen Bloggern, Vergnügungsmeilen und Wolkenkratzern, angesichts seiner – allerdings begrenzten – Öffnung könnte man fragen, ob denn Lis Buch nur noch ein historisch-literarisches Dokument sei.
Der Roman ist bisher nicht in China erschienen, und es lässt sich allenfalls spekulieren, woran das liegt: Natürlich kann das mit der offiziellen Kulturpolitik zu tun haben. Glaubt man Peter Hessler, dem langjährigen Korrespondent des New Yorker, dessen lesenswertes Sachbuch Über Land. Begegnungen im neuen China dieser Tage erscheint, gibt es aber auch innerhalb der chinesischen Gesellschaft ein Desinteresse an jüngerer Zeitgeschichte. Die Leute sind überfordert von den rasanten Veränderungen und müssen doch äußerst flexibel reagieren.
In nur wenigen Jahren geben Millionen Menschen ihre ländlich-bäuerliche Existenz auf, ziehen als Wanderarbeiter auf nackte Baustellen, die erst zu Gewerbegebieten und dann im Handumdrehen zu Großstädten werden. Die Geschichte mag den Orten ausgetrieben werden. Nur, damit ist sie nicht verschwunden.
Lis Figuren würden in einem aktuell spielenden Roman vielleicht teilweise im neuen Mittelstand angekommen sein. Aber ein Gefühl wie die Scham eines Kindes bleibt unvergessen: Die Geschichte steckt weniger in den Orten; sie steckt vielmehr in den menschlichen Körpern, als eine Art Widerhaken. Sie ist den Leuten nicht „früher“, sondern eben erst widerfahren. Daran erinnert der Roman Die Sterblichen.
Yiyun LiDie Sterblichen
, Roman, aus dem Englischen von Anette Grube, Hanser, München 2009, 380 S., 21,50
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