Wir werden niemals mehr „unter uns“ sein

Obergrenze Rassismus und die demographische Wahrheit: Deutschland diskutiert die Einwanderungsthematik auf dem Stand der sechziger Jahre

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Man möchte unter sich sein. Und am besten gestern
Man möchte unter sich sein. Und am besten gestern

Foto: Imago/Imagebroker

Es war wenige Jahre nach der Wiedervereinigung, nach den Ausschreitungen in Rostock und den Brandanschlägen in Solingen und an anderen Orten, als das Asylrecht schon einmal ins Visier der Politik geriet und Zuwanderung öffentlich diskutiert wurde. Damals hielt ich dem Kreisvorstand der SPD Neukölln einen Vortrag über die demographische Situation in Deutschland. Ich erinnere mich an mehrere Folien, die ich dazu auflegte. Unter anderem eine, die den Altersaufbau der Gesellschaft um 1900 zeigte und die wie eine relativ gerade Pyramide aussah, dann den damals aktuellen Aufbau, bei dem man noch die Einschnitte des ersten und zweiten Weltkriegs sah und schließlich den Aufbau, wie er sich ab den Jahr 2020 mit und ohne Zuwanderung darstellen würde. Diese „Alterspyramiden“ zeigten, dass auch bei eine jährlichen Zuwanderung von 200.000 Menschen die „Pyramide“ im Jahr 2020 immer noch auf dem Kopf stehen würde.

Inzwischen gibt es meine Grafiken animiert online: https://service.destatis.de/bevoelkerungspyramide/#!y=2033&v=2

Meine zwei politischen Schlüsse, die ich damals aus den Fakten zog, lauteten:

Wir werden zum einen rein aus wirtschaftlichen Gründen spätestens ab dem Jahr 2020 Zuwanderung in der Höhe von 200.000 Menschen pro Jahr brauchen um beispielsweise das umlagefinanzierte Rentensystem stabil zu halten.

Zweitens muss eine Gesellschaft die Zuwanderer perspektivisch mit der bestehenden Bevölkerung juristisch und politisch gleich stellen, da es sonst zu massiven Ungerechtigkeiten und sozialen Spannungen kommen wird. Gesellschaften mit starken sozialen und politischen Ungleichheiten können nämlich nur repressiv stabil gehalten werden, wie das Beispiel der Heloten im antiken Sparta zeige.

Der Vortrag hatte auf die Anwesenden, unter denen sich auch Heinz Buschkowski befand, einen großen Eindruck gemacht. Von diesem Zeitpunkt an änderte sich auch einiges, vor allem, was die Wahlkämpfe betraf. Denn wir, aus dem Arbeitskreis Migration, waren plötzlich gefragt, wenn es darum ging, Konzepte zu entwickeln, Migranten für die Positionen der SPD zu gewinnen. Dass Heinz Buschkowski freilich ganz andere Schlüsse zog ist auch bekannt.

Als in den jüngsten Koalitionsvereinbahrungen plötzlich die Obergrenze von 200.000 Einwanderern auftauchte, erlebte ich ein Déjà-vu. Wie konnte es sein, dass ausgerechnet die Zahl, die ich vor mehr als zwanzig Jahren als Minimum für die Zahl der Einwanderer pro Jahr genannt hatte, plötzlich als Obergrenze formuliert wurde?

Dazu gibt es für mich nur zwei schlüssige Erklärungen. Zum einen, dass meine vor über zwanzig Jahren vorgetragenen Fakten bei Politikern, Soziologen und den gängigen „Thinktanks“ wie den einschlägigen Stiftungen inzwischen längst Allgemeingut sind, dass man aber aus verschiedenen Gründen die bekannte Wahrheit der bestehenden Bevölkerung nicht kommunizieren möchte.

Zum anderen ist bekannt, dass der Überbringer von Nachrichten oft für die Nachricht selbst verantwortlich gemacht wird. Politiker, die sagen würden, dass wir in Zukunft Einwanderung brauchen und dass sie nicht wie eine biblische Heuschreckenplage über uns kommt, sondern dass wir darauf existentiell angewiesen sind, würde für diese Nachricht vermutlich bei Wahlen „abgestraft“. Schließlich aber ist die Analyse, dass eine Einwanderungsgesellschaft letztendlich die Einwanderer integrieren muss, dass sie sie also vollumfänglich an der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklung teilhaben lassen muss, da es sonst zu sozialen Spannungen kommt, die nur repressiv unterdrückt werden kann, in der Öffentlichkeit überhaupt noch nicht angekommen.

Angekommen sind hingegen die Spannungen, die ich voraussagte. In Form von Attentaten und Angriffen haben sie die europäischen Innenstädte erreicht. Und, wie gleichfalls vorausgesagt, setzt die Politik auf Repression. Diese Repressionen sind beispielsweise die Vorratsdatenspeicherung, die Gesichtserkennung und andere Maßnahmen, die vorgeblich der Terrorabwehr dienen, die aber letztlich alle Bürger treffen.

Vorangetrieben wurde parallel dazu die massive soziale und ökonomische Spaltung der Gesellschaft, wofür exemplarisch die Hartz-IV-Gesetze stehen. Der administrative und ökonomische Druck auf den „unteren“ Teil der Gesellschaft wurde derart erhöht, dass sich Menschen, die sich vormals noch als sozial abgesichert und integriert wähnte, plötzlich im freien Fall befanden. Sie trafen und treffen auf einen Arbeitsmarkt, wo sie oder ihre Kinder mit den Einwanderern um die raren besseren Plätze im unteren Segment kämpfen.

Hier greift nun als letztes Moment des Dramas, der nie wirklich beseitigte Rassismus in breiten Bevölkerungsschichten. Der Glaube an „deutsche Wertarbeit“ oder an „deutsche Tugendenden“ wurde auch nicht durch die allgegenwärtigen Beispiele von asiatischen Autos und Elektronikprodukten, die man noch Annfang der siebziger Jahre als billige Imitate belächelte, gebrochen. Inzwischen haben uns die Asiaten jedoch gezeigt, dass sie vieles sogar besser können. Die Tatsache schließlich, dass das Kapital gegenüber den Arbeitskräften farbenblind ist und dass beispielsweise Dacia erfolgreich in Rumänien und Marokko Autos produziert, ist offensichtlich in der Bevölkerung mental gar nicht richtig angekommen. Dennoch kann die Verunsicherung nicht ganz geleugnet werden und auch den schlichteren Gemütern dürfte der Weggang von Nokia aus Bochum nach Rumänien in Erinnerung geblieben sein.

Hier ist das Einfallstor aller rechtspopulistischen und faschistoiden Parteien von der AfD bis zur NPD. Diese können leicht mit offenen und unterschwelligen rassistischen Ressentiments operieren und dem tumpen „Wahlpöbel“ suggerieren, dass sie einen gesellschaftlichen Zustand wieder her stellen könnten, in dem „die Deutschen“ wieder unter sich sind.

Dass dieser Zustand weder wünschenswert wäre, geschweige denn wieder herstellbar ist, wie die einfachen demographischen und soziologischen Befunde zeigen, verschweigen sie geflissentlich der Bevölkerung.

An dieser Stelle nun ist das völlige Versagen der etablierten bürgerlichen Parteien und auch der Linken sowie des Großteils der politischen Klasse festzustellen. Dadurch, dass von Sarah Wagenknecht bis Horst Seehofer alle so tun, als gäbe es keine notwendige Zuwanderung und als könne man mit dem Phänomen nur repressiv umgehen, schaffen sie genau den Nährboden, auf dem die AfD ihre Erfolge feiert. Im Grunde genommen bewegt sich der Diskurs nämlich noch auf dem Niveau der sechziger Jahre, als man Arbeitsmigranten noch „Gastarbeiter“ nannte und meinte, die vermeintlichen „Gäste“ würden irgendwann wieder in ihre Herkunftsländer zurück kehren.

Solange man aber die Diskussion nicht nach vorne gewandt führt und sich überlegt, wie man eine Gesellschaft mit Zuwanderung als offene, pluralistische und demokratische Gesellschaft konzipieren könnte, wird außer der Stärkung des Rechtsextremismus und der weiteren Einführung von Repressionen nichts zur Lösung der anstehenden Fragen auf die Tagesordnung kommen.

Vielleicht rufen sich die Parteien einmal ins Bewusstsein, dass sie laut Grundgesetz an der politischen Willensbildung des Volkes beteiligt sind. Dass ein Teil des Volkes was die politischen Einstellungen angeht auf dem heutigen Niveau sind, ist auch ihr verschulden.

Dem Kapital freilich kann dies nur recht sein. Denn Repression und Spaltung der Gesellschaft bedeutet für sie die weitere Entsolidarisierung. Dies führt dazu, dass weiterhin ein Heer von weitgehend rechtlosen Arbeitskräften zur Verfügung steht und ein umfangreicher Repressionsapparat die Menschen gefügig hält. Hier wären die Gewerkschaften gefragt, die aber ebenfalls im politischen Tiefschlaf sind und sich höchstens noch Sorgen um die Stammbelegschaft machen, anstatt den skandalösen Arbeitsmarkt mit Leiharbeitern, Minnijobbern und arbeitenden Armen auf die Tagesordnung zu setzen. Würde dies geschehen, würden wir in den erbärmlichen Talkshows von Will bis Maischberger mal endlich über etwas anderes diskutieren als über Terrorismus und Flüchtlinge.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Saltadoros

Olaf Schäfer: Pädagoge, Musiker...

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