Vor vielen Jahren sagte mir ein Kollege und Entwicklungsspezialist mit über 30jähriger Arbeitserfahrung in der Westbank und im Gazastreifen: „Man zerstört eine Gesellschaft nicht, um sie danach wieder aufzubauen.“ Mit diesem einen Satz fasste er die ökonomische Realität Palästinas und seine anhaltende Misere zusammen. Gibt es dort noch eine Ökonomie? Ja, aber die wird immer unrentabler.
Die Westbank und Gaza befinden sich seit 52 Jahren unter israelischer Besatzung, ein Zeitraum, der fast drei Viertel der Geschichte Israels umfasst. Die Folgen sind für beide Gebiete verheerend. Früher galten sie als Regionen mit niedrigem mittleren Einkommen, heute erleben beide ein rückläufiges Wachstum, eine exemplarische Arbeitslosigkeit und Armut, dazu eine nicht nachhaltige Abhängigkeit von (abnehmender) internationaler Hilfe. Dabei ist die Lage in Gaza besonders angespannt, dort befindet sich die Wirtschaft nach dem Urteil der Weltbank „im freien Fall“, ausgelöst durch den Abbau internationaler Hilfe wie die zunehmende Gewalt zwischen Palästinensern und Israelis.
Im Westjordanland lag die Erwerbslosenquote 2018 bei 17,6 Prozent, wäre aber mehr als doppelt so hoch, würden entmutigte Arbeiter berücksichtigt, die nicht mehr nach Jobs suchen, und die Arbeitsplätze in israelischen Siedlungen herausgerechnet. Gegenwärtig sind etwa 900.000 Menschen oder 30 Prozent der gesamten Bevölkerung allein in der Westbank auf humanitären Support angewiesen.
Noch prekärer jedoch ist die Lage in Gaza. Schon 2007 sagte mir eine palästinensische Ökonomin, „wir haben mit der Nahrungsmittelhilfe begonnen und sind zur Nahrungsmittelhilfe zurückgekehrt“, was eine dramatische Transformation innerhalb dieses Gebiet beschreibt: Von einer Gesellschaft, die an wirtschaftlichem Wandel interessiert war, zu einer völlig geschwächten Bevölkerung, die nur noch eine demografische Größe in einer isolierten Enklave darstellt. Sie kann weder politisch noch wirtschaftlich mobilisiert werden und ist weitgehend vom „guten Willen“ internationaler Geber abhängig. Laut Weltbank wird der Gazastreifen durch hohe Transferzahlungen von Hilfsorganisationen und der Palästinensischen Autonomiebehörde über Wasser gehalten, die 70 bis 80 Prozent des dortigen Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmachen. Die Gaza-Blockade, die nun schon 13 Jahre dauert, verdeutlicht, wie Wirtschaftspolitik zu Strafzwecken eingesetzt werden kann. Es wurden normale Handelsbeziehungen unterbunden, von denen die Gaza-Ökonomie stets abhängig war, zugleich die Tätigkeit des Privatsektors gelähmt, wogegen die Hamas-Behörden wenig oder gar nichts unternahmen.
80 Prozent brauchen Hilfe
Was übrigblieb, ist eine weitgehend konsumorientierte, alimentierte Ökonomie. Allein die drei Angriffe auf Gaza Ende 2008, 2012 und 2014 haben die lokale Wirtschaft weit über eine Milliarde Dollar an direkten und indirekten Schäden gekostet. Nach Angaben der UN liegt das reale Pro-Kopf-Einkommen heute um 30 Prozent niedriger als 1999. Rund 53 Prozent der Gaza-Bewohner – also mehr als jeder Zweite, darunter über 400.000 Kinder – leben in Armut, während 68 Prozent an Lebensmittelunsicherheit leiden, was bedeutet: Sie verfügen über keinen Zugang zu ausreichenden Mengen an nahrhaften Lebensmitteln. Über 80 Prozent der Gesamtbevölkerung (1,6 Millionen Menschen) benötigen humanitäre Hilfe. Obdachlosigkeit ist ein wachsendes Problem, weil die Menschen ihre Miete nicht zahlen können.
Der langsame, aber stetige Niedergang der palästinensischen Ökonomie ist das Ergebnis einer absichtsvollen Politik, die einem Volk aufgezwungen wird, das nichts lieber täte, als zu arbeiten. Diese Politik erfüllt das Hauptziel Israels, eine lebensfähige palästinensische Wirtschaftsentwicklung als Basis einer Staatsgründung zu verhindern. Durchgesetzt wird dies dank einer anhaltenden Besatzung, indem palästinensische Ressourcen abgebaut und die Palästinenser ihrer wirtschaftlichen und sozialen Rechte beraubt werden. Die Regierungen Israels und der westlichen Staaten nennen das „Wirtschaftsfrieden“. Der Osloer „Friedens“prozess von 1993 stellte einen differenzierteren Ausdruck dieses Betruges dar, wie sich das beispielsweise an Projekten wie Industrierevieren gezeigt hat, die trotz einer unveränderten, oft sogar noch restriktiveren Besatzung Perioden des Wachstums versprachen.
Diese Strategie, den Frieden mit verbesserten Handelsbeziehungen zu verbinden, und nationale Rechte durch eine begrenzte und flüchtige Prosperität zu unterdrücken, ist so alt wie die Besatzung selbst. Der 50 Milliarden Dollar umfassende Plan von Jared Kushner, Schwiegersohn und Berater von Donald Trump, in dem das Wort „Besatzung“ nirgends auftaucht, ist nur die jüngste und offenkundig unrealistischste Wiederholung jenes „Wirtschaftsfriedens“, die ebenfalls scheitern wird. Nicht zuletzt deshalb, weil der Plan von anderen fordert, die Programme zu unterstützen, von denen sich die USA zurückgezogen haben.
Heute wird die Besatzung von einer internationalen Gemeinschaft akzeptiert, die bereit scheint, sie zu legitimieren, solange kein akzeptiertes Abkommen für deren Ende existiert. Eine willfährige, sich mitschuldig machende Gebergemeinschaft – allen voran die USA und EU – unterstützt die israelische Politik sowohl direkt als auch indirekt. Das Unvermögen der palästinensischen Behörden, interne Machtkämpfe wie auch die Korruption in der Westbank und im Gazastreifen einzuhegen, trägt ebenfalls dazu bei, dass die Bevölkerung weiter verarmt.

Foto: Issam Rimawi/Anadolu Agency/Getty Images
1993 galten die Oslo-Verträge als ein Wendepunkt, von dem viele glaubten, dass er zu einer Zwei-Staaten-Lösung führen werde. Eine sorgfältige Lektüre der Oslo-Dokumente offenbart indes etwas ganz anderes – sie „normalisieren“ die Besatzung. Die wurde als politische und rechtliche Frage von internationaler Relevanz auf den lokalen Kampf um Marktzugänge und Arbeitsgenehmigungen reduziert. Wenn überhaupt, dann wurde die Besatzung im Rahmen des Oslo-Prozesses als „Normalität“ sichtbar. Oslo ermöglichte Israel die Argumentation, dass es auf ein Ende der Besatzung hinarbeite, während tatsächlich eine Politik verfolgt wurde, die eine weitere Präsenz in den besetzten Gebieten sicherstellte und die Entstehung eines lebensfähigen palästinensischen Staates wie einer lebensfähigen Wirtschaft in den Regionen verhinderte, die Israel gern als seine eigenen beanspruchte. Zu den schlimmsten Maßnahmen während des Oslo-Prozesses zählten die nahezu vollständige Trennung von Westbank und Gazastreifen, die Isolierung Gazas, die interne Fragmentierung der Westbank, von der große Teile durch Israel beschlagnahmt wurden, sowie die wachsende Ineffizienz internationaler Hilfe, die inzwischen zunehmend aus humanitärem Beistand und Dienstleistungen besteht, die außerhalb eines jeden ökonomischen Rahmens geleistet werden.
Mit Oslo wurde der historische Streit um Land als Politik der Trennung, Isolation und Eindämmung neu formuliert. Trennung meint in diesem Kontext, dass die geografische Grundlage einer Volkswirtschaft fragmentiert wurde, indem die Menschen den Zugang zu ihrem Land verloren, natürliche Ressourcen nicht nutzen konnten, die palästinensische Ökonomie keinen Zugang zum Weltmarkt hatte. Die israelische Journalistin Amira Hass schrieb dazu: „Die vollständige Trennung des Gazastreifens von der Westbank stellt eine der größten Errungenschaften der israelischen Politik dar.“
Beschlagnahme, Räumung
An dieser Stelle möchte ich kurz auf eine israelische Politik im Westjordanland eingehen, die von der Besatzung zur Annexion übergeht, und mich der Transformation widmen, die in Gaza dazu führt, dass die Palästinenser als Volk mit unveräußerlichen Rechten zu hilflosen Objekten humanitärer Wohltätigkeit werden.
Ein entscheidendes Merkmal der Westbank-Ökonomie besteht in der ständigen Enteignung von Land, Wasser und anderen Ressourcen durch Israel. Diese und andere Faktoren – wie etwa eine abweisende Unternehmenspolitik Israels – behindern den normalen Handels- und Arbeitsfluss, die Mobilität der Menschen wie die Entwicklung des Privatsektors. Daraus resultiert ein System wirtschaftlich geschwächter und zunehmend unrentabler palästinensischer „Inseln“. Dieses System der Enklaven wird durch diverse Maßnahmen durchgesetzt: eine 708 Kilometer lange Mauer, die Zehntausende Palästinenser von ihrem Land trennt. Hinzu kommen fast hundert permanente und Tausende von mobilen Kontrollpunkten wie ein komplexes, schwer zu navigierendes System von Bewegungspässen, das für Palästinenser in Abhängigkeit von ihrem Wohnort gilt.
Vielleicht ist das Terrain mit den abträglichsten Auswirkungen auf die lokale arabische Wirtschaft das „Gebiet C“, das 61 Prozent des Westbankterritoriums ausmacht. Es steht unter nahezu vollständiger israelischer Kontrolle und ist palästinensischer Gerichtsbarkeit entzogen. Auch wenn Israel dies mit Sicherheitsbedenken begründet, besteht das grundlegende Ziel darin, die wertvollen natürlichen Ressourcen des Gebiets zu kontrollieren, und die arabische Bevölkerung notfalls gewaltsam zu vertreiben, um in demografischer Hinsicht eine jüdische Mehrheit zu schaffen. Angesichts weiter wachsender Siedlungen, von Zwangsräumungen, Zugangsbeschränkungen zu Weideland und Wasser, Bauverboten wie der Beschlagnahme oder Zerstörung palästinensischer Wohn-, Handels- und Dienstleistungsstrukturen überrascht es nicht, dass die palästinensische Bevölkerung im Sektor C zurückgeht. Vor kurzem hat Israel sein Vorgehen bei Abrissen im Westjordanland auf Ostjerusalem ausgedehnt, dessen isolierte Ökonomie einen dramatischen Rückgang erlitten hat, weil die israelische Politik wirtschaftliches Engagement dort weitgehend erstickt. Für Gebiete, die technisch unter der Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) stehen, stellt dies einen alarmierenden Präzedenzfall dar. So haben die israelischen Behörden am 22. Juli in Wadi al-Hummus, einem Teil des Sur-Baher-Viertels in Ostjerusalem, zehn Gebäude abgerissen, darunter 70 Wohneinheiten, wodurch Hunderte von Menschen vertrieben wurden. Diese Gebäude waren legal mit PA-Genehmigungen gebaut worden.
1946 pochte Chaim Weizman, von 1949 bis 1952 Israels erster Präsident, auf die wirtschaftliche Tragfähigkeit des zionistischen Projekts und erklärte: „Die ökonomische Leistungsfähigkeit eines Landes ist das, was seine Bevölkerung daraus macht. Vieles hängt definitiv davon ab, ob ein Volk gebildet und intelligent ist, (...) ob sein Sozialsystem wirtschaftliche Anstrengungen fördert oder nicht; ob die intelligente Nutzung der natürlichen Ressourcen erfolgt; und schließlich, ob die Regierung sich bemüht, die Aufnahmefähigkeit des Landes zu erhöhen oder ob ihr das gleichgültig ist.“
Ich würde argumentieren, dass es genau jene Faktoren sind – eine gebildete Bevölkerung, ein gesundes und leistungsfähiges Sozialsystem, die produktive Nutzung natürlicher Ressourcen –, die Israel über mehr als ein halbes Jahrhundert Besatzung missachtet hat. Der verstorbene palästinensische Ökonom Yusif Sayigh vertrat die Auffassung, wirtschaftliche Entwicklung sei ein palästinensisches Recht und nicht etwa die Lösung für eine dauerhafte Besatzung. Anzufügen wäre: Die einzige Lösung für die Besatzung ist die Freiheit – kein Wirtschaftsplan oder Geldbetrag kann sie jemals ersetzen.
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