Verschwindende Körper

Geschlechterforschung Wie dem akademischen Feminismus das weibliche Subjekt abhandenkommt
Ausgabe 31/2020

Seit einiger Zeit lässt sich in der Geschlechterforschung die Tendenz beobachten, die Vorgeschichte der eigenen Disziplin gerade dadurch zum Verschwinden zu bringen, dass sie als Erbschaft beansprucht wird. Neuere Buchtitel und Vorträge wie Was kommt nach der Genderforschung? (Rita Casale/Barbara Rendtorff, 2008) oder Queering gender als Bestandteil spätkapitalistischer Subjektivierung (Tove Soiland, 2017) zeugen jedoch durchaus von einem Bewusstsein dafür, dass die Genderforschung die Geschlechterforschung der achtziger und neunziger Jahre als Paradigma ersetzt und einen neuen Konsens gestiftet hat, der die Klassifikation der Queer Theory als subversiv zunehmend lächerlich erscheinen lässt. Ausschlaggebend für diesen Wandel ist die Auflösung der von Queertheoretikern als repressiv abgelehnten Annahme einer konstitutiven Zweigeschlechtlichkeit der Menschen zugunsten eines geschlechterpolitischen Identitätenbaukastens, aus dem sich das zerfallende spätkapitalistische Subjekt immer wieder neu zusammenflicken soll: als queer-, femme-, demi-, sapio- oder asexuell, um nur einige der immer spezialistischeren Begriffskonstruktionen zu nennen. Für die Geschlechterforschung bedeutete dieser Wandel, dass die Kategorie Mann oder Frau, ja im Grunde die Kategorie Geschlecht überhaupt, nicht länger vorausgesetzt werden dürfe – auch nicht zu dem Zweck, die daran anknüpfenden Rollenmuster zu analysieren.

Neustart nach zwölf Jahren

Die Arbeitsstelle Gender Studies (AGS) der Universität Gießen war bis vor einem Jahr eine der letzten Bastionen der sozialgeschichtlichen Geschlechterforschung, bis infolge eines negativen Gutachtens queertheoretisch geschulter Professoren – darunter Paula-Irena Villa, Sabine Hark, Kerstin Palm und Norbert Ricken – gut zwölf Jahre nach ihrer Gründung sämtliche Funktionen in der Leitung und in der Geschäftsführung zugunsten eines Neustarts niedergelegt wurden. Das ist vor allem deshalb ein Verlust, weil an der AGS jene Themen erforscht wurden, die in den Gender Studies seit Jahren systematisch vernachlässigt werden: der Zusammenhang von Rechtsextremismus, Antisemitismus und Misogynie, die Unterdrückung der Frauen in islamischen Herrschaftsgebieten und die Geschichte der Frauenbewegung in den verschiedenen westlichen Staaten. Die ehemalige Leiterin der AGS, die Politologin Barbara Holland-Cunz, hat zu letzterer mehrere Studien vorgelegt, ihre Kollegin Alexandra Kurth zum Männlichkeitsbild in der rechten Szene.

Holland-Cunz kritisierte die negative Evaluation des vorwiegend mit theoretischen Gegnern besetzen Gremiums gegenüber dem Gießener Anzeiger als „nicht immer fair“ und durch „inhaltliche Differenzen“ begründet, ohne dass aus diesem Vorwurf bis auf einen Artikel in der Jungle World von Ali Tonguç Ertuğrul und Sabri Deniz Martin eine breitere Diskussion gefolgt wäre. Das Gutachten, in dem fehlende Interdisziplinarität und eine unzureichende Forschungsleistung der AGS bemängelt wurde, widersprach weiterhin üblichen wissenschaftlichen Standards. So lassen sich den Schriften und der Forschungsarbeit von Sabine Hark und Paula-Irene Villa kaum Gegenstandsgebiete finden, die sie als qualifiziert zur Begutachtung gerade der AGS erscheinen lassen. Zwar beschäftigt sich auch der akademische Queerfeminismus zunehmend mit der politischen Rechten – allerdings interessieren sich Villa und Hark erst seit der Diskussion um den neurechten „Anti-Genderismus“ für dieses Thema. Darüber hinaus arbeiten die beiden bekanntesten Queer-Theoretikerinnen Deutschlands seit Jahren programmatisch gegen eine Tradition der Frauen- und Geschlechterforschung, für die die AGS stand, was ein ausgewogenes Urteil über das Institut wenig wahrscheinlich erscheinen ließ, wie auch schon Ertuğrul und Martin feststellten.

Holland-Cunz und Kurth bemängelten denn auch, dass politische Differenzen – etwa über die kulturrelativierende Sichtweise auf den Islam, den die Queer Theory pflegt, oder über Symbolpolitik wie den Streit um Gendertoiletten und Gendersternchen, der nach Holland-Cunz nicht die Zukunft der Geschlechterforschung sein kann durch die Evaluation neutralisiert worden seien, statt sie auszutragen. Diametral verschiedene Ansichten herrschten über den Diskurs zu den sexuellen Übergriffen durch mehrheitlich moslemische Migranten in der Kölner Silvesternacht 2015, den Villa und Hark in ihrem 2017 erschienen Essay „Unterscheiden und Herrschen“ als rassistisch bewerteten. Hark unterschrieb überdies eine Stellungnahme, die sich gegen die Anti-Kopftuch-Kampagne „Den Kopf frei haben“ der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes richtete und in der kein Wort darüber verloren wurde, dass die Verschleierung von Mädchen ein Zwangsinstrument des moslemischen Patriarchats darstellt. Dem Artikel von Ertuğrul und Martin lässt sich zudem entnehmen, dass ein kurz nach der Evaluation eingeschalteter Fachanwalt des Deutschen Hochschulverbands der Evaluation eine Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze attestierte . Da die Universität Gießen das Gutachten trotzdem nicht öffentlich gemacht hat, bleibt unüberprüfbar, wie die Zusammensetzung des Evaluationsgremiums zustande gekommen ist, nach welchen Maßstäben es sein Urteil fällte und welche Zielsetzung die Universität Gießen dabei vorgab.

Nach der negativen Evaluation hat Nikita Dhawan in Gießen eine Professur im Fachbereich Politikwissenschaften mit den Schwerpunkten Postkolonialismus und Queer-Theory angetreten – für genau jene Arbeitsschwerpunkte also, die Villa und Hark gerne noch stärker als ohnehin an den Universitäten vertreten sähen. Der Gießener Fall steht insofern exemplarisch für den Riss, der sich zwischen sozialhistorisch orientierter Geschlechterforschung und den Gender Studies in den vergangenen Jahren aufgetan hat.

Die Dritte Frauenbewegung

Als sich Ende der neunziger Jahre die Gender Studies an deutschen Universitäten als Fach konstituierten, hat man sich ob der bereits damals durch die von Judith Butler und Edward W. Said bekundeten Vorliebe für den Opfer-Dschihad zumindest mit psychoanalytischer und sozialgeschichtlicher Geschlechterforschung auseinandergesetzt, um die Auswirkung geschlechterspezifischer Erziehung auf politische Weltanschauungen zu untersuchen, die die Queer Theory nicht in den Blick nahm. Zwei Jahrzehnte später lässt sich kaum ein Interesse mehr an solchen Zusammenhängen feststellen. Ausgehend von den US-amerikanischen Cultural Studies, hat sich vielmehr eine Skepsis gegenüber sozialhistorischen Analysen etabliert. Ganz allgemein wird den Sozialwissenschaften seitens der Cultural Studies vorgeworfen, sich an der Konstruktion binärer Kategorien zu beteiligen, statt diese zu dekonstruieren. Für die ältere feministische Theorie, die geschlechterspezifische Ungleichheit in gesellschaftlichen Verhältnissen begründet sah, war es indes selbstverständlich, dass die Verhältnisse selbst und nicht etwa deren Theoretisierung oder Verbalisierung das Geschlecht hervorbringen – und zwar auf Grundlage der materialen ersten Natur, zu der auch die von der Gesellschaft überformte, aber eben nicht erzeugte Geschlechtsnatur gehört.

Bereits während der 68er-Bewegung war die Aussage von Simone de Beauvoir, man werde nicht als Frau geboren, sondern von der Gesellschaft zur Frau erzogen, zu einem Gemeinplatz der Zweiten Frauenbewegung geworden, wobei das konkrete Verhältnis zwischen biologischem Geschlecht und sozialem Geschlechtscharakter schon damals wenig interessierte. Zwar wurde Beauvoirs Gedanke sowohl von der zweiten Frauenbewegung unter der Meinungsführerschaft von Alice Schwarzer wie auch später von Judith Butler aufgenommen. Während die zweite Frauenbewegung jedoch das Frausein als von der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossene Erfahrung substantialistisch auflud, führte Butler die berechtigte Kritik an solcher Geschlechteraffirmation ad absurdum, indem sie die evidente Tatsache biologischer Geschlechtsmerkmale leugnete und so die leibliche Dimension des Körpers von der gesellschaftlichen Frauwerdung entkoppelte.

Die ab 1976 in West-Berlin erschiene feministischen Zeitschrift Die Schwarzen Botin antizipierte in ihrer Kritik am Schwarzer-Feminismus, worauf die zweite Frauenbewegung hinsteuern würde, wenn sich ihre Protagonistinnen der freiwilligen Unmündigkeit unter dem Vorzeichen von „Frauengefühlen“, einer „neuen Weiblichkeit“ oder Restaurierungsarbeiten an der Sprache auslieferten. Die organisierte Rebellion gegen die erste Natur im späteren Queerfeminismus erscheint unter solchen Gesichtspunkten als die Kehrseite der früheren Überaffirmation der zweiten; die Hypostasierung von, wegen ihres Muts oder ihrer Wut vorbildhafter Frauen zu „Superheldinnen“ oder „Göttinnen“, die in der zweiten Frauenbewegung angelegt ist, erfährt in der dritten Welle eine Renaissance in Gestalt eines statt Gleichheit und Freiheit nur mehr Vielfalt proklamierenden Identitätsparadigmas – beidem gemein ist die Kultivierung abstrakter Differenz gegenüber einem vorgeblich ungebrochen herrschenden männlich-westlich-weißen Patriarchalismus, dem „weibliche Qualitäten“ entgegenzusetzen seien, welche nun nicht mehr nur in empirischen Frauen, sondern in allen nicht-heteronormativen Identitäten verkörpert seien.

Schon in der Zweiten Frauenbewegung, gegen deren in der Zeitschrift Emma verkörperten Mainstream sich die Schwarze Botin wandte, waren Fähigkeiten wie die zur Abstraktion und Selbstdistanz wenig gefragt. Benannt wurden vor allem potenzielle Gefahren, vor denen sich Frauen beim Sprechen und Schreiben zu hüten haben, wenn sie nicht wie die Männer werden wollten; vom eigenständigen Denken war selten die Rede. Die Frauensolidarität beschrieb vor allem die Sphäre, in der Frauen ihre angebliche Natürlichkeit, Innerlichkeit und Subjektivität ausleben sollten. Sowohl die zweite Frauenbewegung als auch der Queerfeminismus müssen sich dazu verhalten, dass eine Konvergenz ihrer Ansichten mit der Entwicklung des Kapitalismus in der bürgerlichen Epoche besteht. So lässt sich eine zwiespältige Affinität ihrer kapitalismuskritisch vorgetragenen Forderungen zur meist als Neoliberalismus etikettierten Erneuerung des Kapitalismus feststellen, der die Möglichkeit zur Entfaltung der Frau als Subjekt in der Zerstörung vormoderner, feudaler Verhältnisse erst geschaffen hat, zugleich aber neue Zwänge an deren Stelle treten ließ.

Die Historikerin Barbara Duden konstatierte ganz in diesem Sinne in ihrem 1977 im Kursbuch erschienenen Essay „Das schöne Eigentum“, die bürgerliche Gesellschaft würde die Unterdrückung der Frau lediglich nivellieren, statt sie abzuschaffen. Der Gegensatz zwischen männlichem Leistungsdenken und der für Frauen zugedachten Rolle als Gattungswesen habe immer mehr Frauen im Aufbegehren gegen die eigene „Ich-Schwäche“ ermutigt, andererseits aber die Annahme populär gemacht, mit der Verallgemeinerung einst „männlicher“ Rollenbilder sei bereits reale Gleichberechtigung hergestellt. Wie die Sozialhistorikerin Claudia Honegger in ihrem 1991 erschienen Buch „Die Ordnung der Geschlechter“ hat sich Duden – im Gegensatz zu Butler und ihren Adepten – mit der Geschichte der Gynäkologie beschäftigt, die konstitutiv ist, um das Verhältnis von erster und zweiter Geschlechtsnatur zu analysieren. Beide deuten die Gynäkologie als Institution, die die stärkere Kontrolle der Frauen über die erste Natur hätte ermöglichen können, stattdessen aber eine Agentur zur Kontrolle weiblicher Sexualität geworden sei, und fragen nach den historischen Gründen dafür. Die Gebärfähigkeit der Frauen erkannte schon Engels als ursächlich für die frauenverachtenden Praktiken, die es bis heute überall auf der Welt gibt: die Zwangsuntersuchungen und das Verbot von Verhütung im kommunistischen Rumänien, weibliche Genitalverstümmelung in islamischen Ländern, die Sterilisierung armer Frauen in Südamerika etc. pp.

Um solche Praktiken kritisieren zu können, muss man jedoch – wie Duden und Honegger zeigen – einen Begriff davon haben, welches Verhältnis zwischen Geschlechtsnatur und Gesellschaft in verschiedenen Kulturen besteht. Ein Begriff, um den man sich bringt, wenn man wie der Queerfeminismus „Natur“ (und damit auch die Geschlechtlichkeit der Menschen) als Begriffsfiktion abtut. Butler entwickelte ihre Kritik an der „normativen Zweigeschlechtlichkeit“ zeitgleich mit der sexuellen Liberalisierung, die u.a. durch die Zweite Frauenbewegung befördert wurde. Doch anders als die sozialgeschichtliche Geschlechterforschung geht sie nicht mehr in Anschluss an Freud von einem allen Menschen gemeinsamen, sich geschlechterspezifisch und individuell aber ausdifferenzierenden Triebschicksal aus, sondern behandelt die Geschlechterdifferenz nur als normierendes Hindernis. Verbunden ist diese Abtrennung mit einer Ausdifferenzierung der geschlechtlichen Sphäre im Zuge der Individualisierung, die sich in neuen Identitäten von Sex, Gender Identity, Transgender usw. manifestiert.

In der Tat ist durch die Auflösung der Konkurrenzwirtschaft der Handlungsspielraum von Frauen innerhalb dieser gewachsen. Statt angesichts dieses Fortschritts die Emanzipation der Geschlechter zu verwirklichen, wurden jedoch zuvor bestehende Zwänge neu austariert oder, wie Feministinnen das inzwischen selber nennen: ausgehandelt. So müssen sich Frauen am „männlichen Subjekt“ orientieren, um nicht in ihre weibliche Subjektivität eingeschlossen zu werden; umgekehrt müssen aber auch Männer kommunikativ, weich und sensibel ihre neue Rolle performen, um Anerkennung zu erlangen. Es ist heute diese Dethematisierung von Geschlechtlichkeit, die eine neue Hierarchisierung zwischen den Geschlechtern befördert. Nur so lässt sich erklären, dass die Emma-Kritikerin Katharina Rutschky Alice Schwarzer noch um die Jahrtausendwende für ihren moralischen Übereifer auf Nebenschauplätzen wie dem Sexismus weiblicher Mode belächelte, Schwarzers Polemiken gegen den frauenfeindlichen Alltag im Islam aber kaum würdigte. Heute gilt Schwarzer dem Queerfeminismus als rassistisch, während der Intersektionalismus statt im Namen von Freiheit und Gleichheit im Dienst der Minderheiten auftritt und so erst recht die Festschreibung von Ungleichheit betreibt. Zu untersuchen, wie es zu diesem Zerfallsprozess der Frauenbewegung kam, setzt die begriffliche Bestimmung von Geschlechtlichkeit und die Untersuchung der empirischen Lebenswirklichkeit von Frauen und Männern in verschiedenen Milieus und Kulturen voraus. Mit der Marginalisierung der Geschlechterforschung durch die Queer Theory wird solchen Untersuchungen zunehmend die Grundlage entzogen.

Sara Rukaj ist Autorin und schreibt unter anderem für die FAZ und die Jungle World

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