Endstation Kanada

Ausstellung Hinter der Messe Leipzig liegt eine U-Bahn-Station Martin Kippenbergers. Bisher kaum bekannt, ist sie Teil seines fiktiven Metronetzes bis nach Nordamerika
Ausgabe 30/2021

Martin Kippenberger besuchte 1992 seinen Freund Michel Würthle auf der griechischen Insel Syros, um sich vom Kunstbetrieb zu erholen. Beim exzessiven Mau-Mau-Spiel musste der Verlierer dem Gewinner etwas zeichnen – eine der „Verlustzeichnungen“ zeigt zwei U-Bahn-Eingänge. Nur ein Jahr später eröffnete während der Party zu Würthles 50. Geburtstag Kippenbergers erste U-Bahn-Station. Ein schlichter Betonguss, 13 Meter lang, 1,80 breit. Wer die Treppe hinabstieg, stand vor einem verschlossenen Gittertor mit Emblem aus Sonne, Busen und Hammer. Zugang zur Unterwelt sollten nur Mitglieder der „Lord Jim Loge“ erhalten, die Kippenberger 1984 mit Künstlerkollegen gegründete hatte. Frauen waren nicht zugelassen.

Das Tor führte ins Nichts, war der reale Beginn einer imaginären Reise. Eine inzwischen demontierte Endstation entstand 1995 im 9.000 Kilometer entfernten Kanada. Bis zu seinem Tod baute Kippenberger sein fiktives Metronetz aus, Werbeplakate versprachen gar die „World Connection“.

Knietief unter Wasser

Während Kippenberger mit künstlerischer Geste zwei Kontinente verband, kämpfte die Leipziger Messe nach Maueröffnung und Wiedervereinigung um ihre Weltanbindung. In der Planungsphase für den Neubau außerhalb der Stadt entstand die Idee, Kunst einzubeziehen. Die Kuratorinnen Brigitte Oetker, Christiane Maria Schneider und Mechthild von Dannenberg überzeugten große Namen: Isa Genzkens Rose begrüßt vorm Eingang, Daniel Buren versah einige Rolltreppen mit seinen weißen und roten Streifen und Kippenberger schloss Leipzig an sein U-Bahn-Netz an. Gelegen hinter der großen Glashalle unweit des Hubschrauberlandeplatzes (Stichwort: Mobilität), ist der Zugang zu den Treppenstufen ebenerdig mit dem Emblem-Tor versperrt, das angesichts der sozialistischen Vergangenheit des Baugrunds neue Assoziationen hervorruft – von FKK bis Gleichberechtigung in der DDR.

Heute findet kaum jemand den Weg zum Werk. Google Maps verzeichnet eine „Sehenswürdigkeit“ und schreibt deren Absurdität unfreiwillig fort als „U-Bahn Projektplanung Leipziger Messegelände“. Marcus Hurttig, Kurator am Leipziger Museum der bildenden Künste (MdbK), wurde von der Künstlergruppe FAMED darauf aufmerksam gemacht und hat sich auf eine intensive Recherchereise begeben: Gerahmt von Kippenbergers Künstlerplakaten stellt er über 100 Exponate, Skizzen und Modelle im MdbK aus, inklusive Livestream zur Leipziger Station. Eine Fotografie von FAMED zeigt sie 2004 mit Wasser gefüllt, an einer Wand ist noch der Umriss eines überstrichenen Hakenkreuzes zu erkennen.

Im Katalog verbindet Marcus Hurttigs anekdotenreicher Essay seine Rechercheergebnisse mit Reproduktionen der Archivmaterialien. Urlaubslektüre für eine U-Bahn-Fahrt um die Welt. Es sei ein zutiefst romantischer Gedanke, den Kippenberger verfolgte habe: Novalis’ berühmtes Postulat von der „Romantisierung der Welt“ schwinge mit, denn Kippenberger verstand die Kunst im Sinne des Dichters als einen grenzenlosen Freiheitsraum für die Fantasie. Obwohl er viel unterwegs war, empfand der Künstler Reisen als strapaziös, zog das Taxi dem öffentlichen Verkehrsmittel vor („Nicht sparen – Taxi fahren“, so seine Empfehlung).

Das METRO-Net-Projekt zählt zu den zentralen Werkkomplexen seines Spätschaffens: Für die documenta X 1997 in Kassel war geplant, eine Station schwimmend in der Fulda zu positionieren, doch die Sicherungsmaßnahmen sprengten das Budget, sodass sie am Ufer landete. Heute steht sie auf einem Golfplatz in St. Moritz. Das MoMA in New York besitzt eine Aluminiumfassung, absichtsvoll von einem Bagger brutal eingedrückt. Lüftungsschächte waren wohl in der Normandie, Tokio und Massachusetts angedacht. Einer wurde 1997 bei den Skulptur Projekten in Münster präsentiert, inklusive Soundinstallation mit U-Bahn-Geräuschen, die in Leipzig die konzentrierte Atmosphäre der Ausstellung regelmäßig unterbricht. Zuletzt war ein Schacht 2003 bei der Venedig-Biennale im Deutschen Pavillon eingebaut. „Seit Kippenbergers Tod fällt das U-Bahn-System mangels kuratorischer Betreuung sukzessive auseinander“, sagt Hurttig. Für ihn ein Missverhältnis zur zunehmenden kunsthistorischen Bedeutung Kippenbergers.

Im Frühjahr 2021 sanierte die Leipziger Messe die Station, in der sich das Grundwasser knietief staute. Vor Ausbruch der Pandemie konnten Führungen zu den Kunstwerken auf der Messe gebucht werden. Es bleibt zu hoffen, dass die aktuelle Ausstellung neue Impulse setzt. 30 Minuten trennen die Innenstadt von Kippenbergers Station. Eine Einbindung in das Vermittlungsprogramm der Leipziger Museen, ein Audiowalk auf dem Gelände oder ein Projekt mit der Hochschule für Grafik und Buchkunst könnten dem Werk langfristig wieder mehr Sichtbarkeit verschaffen. Ein erster Schritt ist gemacht: Die Leipziger Verkehrsbetriebe erklärten sich bereit, die Durchsage an der Endstation Messegelände temporär zu ergänzen um „Übergang zum Metro-Net Kippenberger mit Anschlüssen nach Griechenland und Kanada“.

Info

Martin Kippenberger. METRO-Net MdbK Leipzig, bis 15. August

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