Vorläufig Socke

Literatur Bachmannpreisträgerin Sharon Dodua Otoo debütiert mit „Adas Raum“
Ausgabe 09/2021

Ein Bildungsroman über fünf Jahrhunderte, eine transhistorische Pikareske à la Virginia Woolf oder Jeanette Winterson, eine Meditation über Gewalt, eine abenteuerliche Suche nach einem geraubten Schatz oder die Wiederkehr des Ewig-Weiblichen – in ihrem neuen Roman Adas Raum zeigt Sharon Dodua Otoo, wie leichtfüßig sie sich durch die literarische Landschaft bewegen kann.

Die britische Berlinerin betrat mit der Erzählung Herr Gröttrup setzt sich hin, für die sie 2016 den Bachmannpeis erhielt, die Bühne der deutschsprachigen Literatur. Urkomisch, ernst und messerscharf beobachtet, handelt Herr Gröttrup von der Begegnung eines deutschen Mannes mit einem Frühstücksei. Kurz, aber bedeutsam begegnet er auch seiner Putzfrau namens Ada, deren Geschichte nicht erzählt wird. Eine Geschichte zu haben bedeutet, Mensch zu sein, und Adas Menschlichkeit wird von ihren Arbeitgebern übersehen. Mit Adas Raum bekommt diese Frau nun eine Geschichte und wird Mensch. Mehr noch, sie wird vier Menschen, vier Adas, deren Schicksale sich in Westafrika und Europa zwischen 1459 und 2019 entfalten; bezeugt und miterzählt von einem pikaresken Wesen, das einmal ein Frühstücksei war und sich nichts sehnlicher wünscht, als eines Tages selbst eine Geschichte zu haben.

Gott berlinert: „Nu is aba jut!“

Wie das Armband aus 33 Asante-Goldperlen, das leitmotivisch die Handlung antreibt, besteht Otoos Geschichte aus Schleifen. Die ersten winden sich 1459 durch das portugiesisch kolonisierte Westafrika, 1848 durch London als Zentrum des britischen Empire und 1945 durch ein KZ in Thüringen. Damit werden drei Stränge der gewaltsamen europäischen Geschichte miteinander verflochten. Das Armband besteht aus Fruchtbarkeitsperlen, die neues Leben versprechen, aber um in deren Besitz zu gelangen, sind Männer aus verschiedenen Ländern und Jahrhunderten mit etymologisch verflochtenen Namen wie Guilherme und Wilhelm bereit, über Leichen zu gehen. Einem englischen William bleibt solch offene Brutalität erspart – da sich das Armband schon länger im Besitz seiner Familie befindet, schenkt er es seiner Frau Ada, wie es die Familientradition vorschreibt. Die Verlogenheit solcher Noblesse wird gerügt durch Alfie, einen Überlebenden der irischen Hungersnot. Auch Alfies Name verbindet ihn mit anderen Menschen und Zeiten, zum Beispiel mit dem kleinen Alfonso, Adas Bruder, im 15. Jahrhundert von Sklavenhändlern entführt, aber auch mit dem Kapo Walde („Al“) im KZ Mittelbau-Dora. Die nächsten Schleifen verflechten jene drei Orte und Zeiten mit Berlin im Jahr 2019, wo der selbstzufriedene blonde Berliner Alfons von seinem ghanaischen Großvater erzählt, das pikareske Wesen die Form eines der letzten britischen Pässe mit der Aufschrift „Europäische Union“ annommen hat, und eine vierte Ada schwanger ist mit einem Kind, das vorläufig Socke heißt.

Zwischen den Schleifen plaudert das Wesen mit Gott, der/die mal Schwarz, mal weiß und bärtig, mal grammatikalisch weiblich als Brise erscheint, vor allem aber als Berliner/in („Nu’ is’ aba jut“). Otoo schafft es, in eine ernste Geschichte von Menschen und Gewalt ihren klugen, manchmal schrulligen (Charlottenburg? „so kartoffelig“) Humor mit einzuflechten. An manchen Stellen mutet er britisch an: So entschuldigt sich ein Mann nachträglich bei Ada, weil er sie in einem vorigen Leben erschossen hat: „Oh. Ich habe dich umgebracht. Ich bitte um Verzeihung.“ „Keine Ursache“, erwidert sie höflich.

Witz, Wut und Schmerz liegen nah beieinander: Nachdem sie das Starren von zu vielen weißen Kindern ausgehalten hat, zischt endlich die Berliner Ada einen Jungen an: „Hau ab.“ Der Junge rennt davon. „Unsereins. Wir werden nie deutsch sein. Nie.“ Das erklärt eine ältere westafrikanische Berlinerin. Es ist mehr eine Feststellung denn eine Klage. Denn „unsereins sein“ heißt eben auch, Teil einer Community zu sein, die die Verbundenheit miteinander als notwendiges, das Zusammenleben strukturierendes Moment anerkennt. Adas Raum ist kein Zimmer für sich allein (sosehr die Ada im patriarchalisch-viktorianischen London es sich auch wünscht). Im Lauf ihrer vier Leben besteht Adas Bildungsweg vor allem darin, zu lernen, wer sie ist – und das heißt lernen, dass sie mit anderen in Verbindung ist. Ada ist die Tochter der Mutter, aber auch die Mutter der Tochter, die sie endlich nicht als mein, sondern als unseren Schatz bezeichnet. Die Schatzsuche endet nicht mit einem goldenen Armband, sondern mit einem menschlichen Schatz namens Socke.

Die Berliner Ada hat eine Schwester, Elle, doch auch jede der drei Adas vor ihr hat eine schwesterliche Freundin mit einem L-Namen, von der westafrikanischen Naa-Lamiley über die Londoner Lizzie zu Linde im KZ. Zwei Adas sind in Westafrika geboren, zwei in Europa. Erstere und letztere sind Schwarz, die zwei mittleren weiß – ein Spiegeleffekt, der neben den bekanntesten der Literatur („Tristan Isolt, Isolt Tristan“) tiefe Verbundenheit andeutet

Mit seiner temporalen Vielschichtigkeit, seinem Blick auf menschengerechtere Formen des Miteinanderseins, den chiastischen Strukturen, die die Notwendigkeit unser aller Verbundenheit aufzeigen, erinnert Adas Raum an Olivia Wenzels aufregende politische Ästhetik in deren Romandebüt 1000 Serpentinen Angst (der Freitag 3/2020).

Uns glauben zu machen, dass andere Menschen genauso existieren wie wir selbst, sei die große Herausforderung der Kunst – wie auch „die Herausforderung unseres Lebens,“ schrieb einmal Zadie Smith. Mensch sein heißt, eine Geschichte zu haben. Geschichtenerzählen wäre daher als Liebesbeweis zu verstehen. Dieses Buch ist somit ein Liebesbeweis, und Mensch darf sich freuen, einen solchen von Sharon Dodua Otoo bekommen zu haben.

Info

Adas Raum Sharon Dodua Otoo Fischer Verlag 2021, 320 S., 22 €

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