Er war sein Leben lang ein Provokateur, der 1926 in der Nähe von Danzig geborene und 1991 bei San Francisco gestorbene Mime Klaus Kinski. Bereits Ende der fünfziger Jahre, als ich ihn zum ersten Mal hörte und sah, umgab ihn der Sturm der Revolte. Von Stadt zu Stadt ziehend, rezitierte er Monologe aus Goethe- und Schillerdramen, dazu Gedichte der Rebellen Francois Villon und Arthur Rimbaud und füllte Säle, ja Sportpaläste. Etwas später schlüpfte er in die Rolle Christi, mit dem ihn eine Hassliebe verband, und zelebrierte vor einem irritierten Publikum das Neue Testament. Der da schluchzte und schrie, sich - Schaum vorm Mund - auf dem Boden wälzte, aber auch die zartesten Töne beherrschte, war bei aller Ich-Sucht stets von besonderer Präsenz, war Priester und Dämon in eins, ein früher Popstar, James Dean oder Bob Dylan vergleichbar, und wir, die ihm zuhörten, wollten so sein wie er. Bald feierte Kinski als Bühnenschauspieler von Krächen begleitete Triumphe; er trat in Italo-Western und Edgar Wallace-Verfilmungen auf und stand im Mittelpunkt von Werner Herzogs kühnsten Filmen.
Dass der noch unbekannte Kinski Jahre zuvor Gedichte geschrieben hat und sich zeitweise als gesalbter Lyriker verstanden haben mag, wusste bis zum Erscheinen des vorliegenden Bandes kaum jemand; eine kleine literarische Sensation also, zumal der so Selbstbesessene nie auf sein Jugendwerk hingewiesen oder gar die eigenen Verse öffentlich vorgetragen hat. Dass er sie vergessen haben könnte, ist unwahrscheinlich.
Über die Genese der Texte, ihre Entstehungszeit, die krummen Wege, die sie in verschiedener Manuskriptform nahmen, über ihr Verschwinden und seltsames Wiederauftauchen in einem Münchner Auktionshaus, bringt Kinskis Jugendgefährte Thomas Harlan im Vorwort widersprüchlich Raunendes zu Papier. 1952 oder 1953 sollen die Gedichte in Paris, in Quimper oder im Bündner Land entstanden sein, im Gedenken an eine krebskranke junge Norwegerin, die Kinski auf einer Pariser Parkbank aufgelesen hatte und mit der er eine Zeitlang im Hochgebirge verschwand, bevor er ohne sie wieder nach Paris zurückkehrte. Die "Fieber"-Gedichte, mit raumgreifender steiler Handschrift auf Packpapier geschrieben, aber auch abgetippt und schon gebunden, sogar dem Tonband anvertraut, wurden damals, so Harlan, zusammen mit Fotos in einem Koffer bei einem Freund deponiert und angeblich "vergessen". Als der Sohn des Mimen 40 Jahre später in Harlans Gegenwart den Koffer öffnete, befanden sich weder Manuskripte noch Tonbänder darin. Bis plötzlich 1999 ein unbekanntes, angeblich aus dem Nachlass einer Bayreuther Ärztin oder Arztgattin stammendes und von deren Putzfrau ins Auktionshaus getragenes Konvolut von Kinski-Gedichten auftauchte, in "losen Blättern", nicht auf Pack-, sondern auf Luftpostpapier getippt.
Das klingt verwirrend, wie von Harlan als Legende so arrangiert, und gibt zu trüben Spekulationen Anlass, etwa dahingehend, dass die Gedichte vielleicht gar nicht von Klaus Kinski, sondern zum Beispiel von Thomas Harlan stammen könnten. Denkbar wäre auch, dass der junge Kinski zwar den Kern des Manuskripts, die 33 "Fieber"-Gedichte, selbst geschrieben hat, die übrigen Blätter indes später hinzugefügt wurden, um dem Buch zu einem respektablen Umfang zu verhelfen. Schließlich ging es im Jahr 2001 auch darum, den 75. Geburtstag und den 10. Todestag des mittlerweile Berühmten kommerziell zu nutzen.
Der nun vorliegende, großformatige, von Peter Geyer herausgegebene Band Fieber. Tagebuch eines Aussätzigen ist hoch elegant gestaltet und ausgestattet mit zahlreichen, meist unbekannten Jugendfotos, die Kinski von seiner sensiblen Seite zeigen; dazu stark vergrößerte Manuskript-Ausschnitte, die ästhetisch gefallen, doch anders als Faksimiles so gut wie nichts über die Beschaffenheit der Handschriften aussagen.
Die insgesamt 52 Gedichte dürften wohl kaum im "Genierausch" fiebrig aufs Papier geworfen, sondern eher mit Fleiß erarbeitet sein. Dass sie - wie Harlan behauptet - "während zweier Wochen" entstanden sind, ist wenig glaubhaft. Bei den Versen handelt es sich meist um fünfhebige Jamben, gereimt. Der Verfasser musste brav Silben und Takte zählen, drastische Reimwörter finden; Handwerkliches eben. Er verfügte über Kenntnisse der modernen Lyrik und der Mythologien, hatte Rimbaud studiert und Villons "Lasterhafte Lieder" in der freien Nachdichtung des Expressionisten Paul Zech gelesen, vermutlich auch Jakob van Hoddis und Georg Heym, und er hatte vielleicht auch etwas vom Surrealismus gehört, was seine Neigung zu grotesken Formulierungen erklären könnte, etwa: "Der Tote unterm Tisch verschluckt sich leise" oder "Ich schwamm wie Rotze auf der scharfen Lauge".
Aber er ahmte das Vorgefundene nicht einfach nach, bemühte sich vielmehr um einen eigenen kräftigen Ton selbst dort, wo er sich erkennbar an Villons "Großes Testament" anlehnte: "Du Alter, der an meinem Halse schluchzt! / du armes Schwein auch, das mich angefurzt! / seid unbesorgt! ich kann mich nicht sehr freun!" Auch Kinskis lyrisches Subjekt ist Außenseiter, Rebell und Hurenbock, Vagant in der Winterkälte; er begeht und beobachtet jede Menge Scheußlichkeiten, Gottesschmähung, Vergewaltigung. Doch anders als die sinnlichen Gedichte Villons oder der Expressionisten wirken die unter Kinskis Namen veröffentlichten Verse hochgradig abstrakt, überanstrengt und kunstgewerblich beflissen. Es wimmelt von Ausrufezeichen, schiefen Genitiv-Metaphern und "wie"-Vergleichen (deren Gebrauch schon Gottfried Benn missfiel). Vorherrschend sind Aufzählungen, pure Addition: "Die Wolken haben sich am Dasein festgebissen / die Vögel haben keine Drüsen mehr / die Pubertät lutscht ihren Beutel leer / die Abflußrohre sind gerissen."
Trotz aller Anstrengung hat der junge Kinski für seine Wahrnehmungen und Gefühle nur ausnahmsweise eine lyrisch-poetische Sprache gefunden. Es überwiegt die kalte Ekstase, eine permanente Aufgeregtheit, ein wildes Assoziieren beliebiger, krasser Bilder, die sich wechselseitig relativieren, eine Hochspannung, die die Gesellschaft nur als Huren- oder als Irrenhaus wahrzunehmen vermag: "Dann pißte Gott mir in die schwarzen Venen!!!! ich konnte mich nicht mal nach Christus sehnen, / der wie ein Irrenhäusler lachte."
Doch soll keineswegs der Eindruck entstehen, der Verfasser dieser steilen Gedichte sei unbegabt gewesen, im Gegenteil: sie sind ein Talentbeweis. Es gibt zwischen all dem gespreizt Bedeutsamen und rhetorisch Überladenen Momente echter Poesie und Verzweiflung. Kinski (Harlan oder wer auch immer) hätte nur selbstkritisch weiter schreiben müssen, mit jener Demut, zu der einer wie er, der sich als Genie mit Napoleon und Christus verglich, nicht fähig war. "Ich suche mich", schreibt er einmal, "und wenn ich mich gefunden habe, bin ich mein größter Feind."
Klaus Kinski: Fieber. Tagebuch eines Aussätzigen. Gedichte, hrsg. von Peter Geyer. Eichborn-Verlag, Frankfurt/Main 2001, 128 Seiten, 25,90 EUR
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