In den siebziger Jahren war Ulla Hahn, die erst auf Umwegen zum Studium der Literaturwissenschaft kam, eine streng politisch orientierte Genossin. Sie veröffentlichte Artikel in DKP-nahen Organen, schrieb über Günter Wallraff, den Werkkreis Literatur der Arbeitswelt und promovierte 1978 linientreu über "Operative Literatur in der BRD". Die Gedichte jedoch, mit denen sie dann in den achtziger Jahren so schwindelerregende Auflagen, Lob (besonders in der FAZ) und hochdotierte Preise errang, schienen von einem Positionswechsel zu zeugen, und flugs war eine sich links verstehende Kritik dabei, sie mit Etiketten von "idyllisch-biedermeierlich" bis "zutiefst reaktionär" zu kennzeichnen. Man entdeckte in Ulla Hahn plötzlich eine Renegatin, die dem gesellschaftlichen Engagement abgeschworen hatte.
Von heute her gesehen nimmt sich diese Debatte, zumal sie im exklusiven Lyrikpark stattfand, bizarr aus. Während man sich selbst heimlich aus dem öffentlichen Raum abzusetzen begann, prügelte man unverdrossen auf die erfolgreiche Dichterin ein, der man die Anerkennung neidete. Vor allem das hymnische Lob Marcel Reich-Ranickis, damals noch vielgehasster Literaturchef der FAZ, hat Ulla Hahn bei der politisch korrrekten Kritik - nicht bei den Lesern - geschadet. Gerüchte, Witzeleien machten die Runde, und in einschlägigen Anthologien sucht man ihren Namen vergeblich.
Im Kern ging es um Ulla Hahns Verhältnis zur lyrischen Tradition, um ein vielleicht allzu sorgloses Anknüpfen an klassisch-romantische Themen und Versformen (vom Minnesang bis zu Heinrich Heine). Dass sie auf avantgardistische Experimente und überhaupt schrille Dissonanzen verzichtete, wurde ihr als restaurative Sehnsucht nach dem "Schönen" und "Maßvollen" ausgelegt, das nicht mehr sein durfte. Die Krisenerfahrungen der Moderne - wurde moniert - seien in ihre "vergangenheitsseligen Texte" nicht eingegangen. Die Leichtfüßigkeit ihrer Verse, das virtuose Spiel mit Reimen und Zitaten, erschienen als "rein affimativ", "heimelig" und "zeitlos fad".
Dass Ullla Hahn mehr kann, als kunstgewerblich an einer "heilen Welt" zu basteln, lehrt schon ein flüchtiger Blick in ihre Gedichtbände. Es gibt darin gereimte wie ungereimte Strophen, in denen all das vorkommt, was in den Gedichten anderer Lyriker dieser Generation auch auftaucht - der Alltag: geschminkte und ungeschminkte Frauen; Männer, die im KZ waren oder bei den Nazis; Menschen im Kaufhaus und im Freibad; Liebende, Dichter und Gärtner.
Auch die ernsten politischen Themen hat Ulla Hahn, bei aller Neigung zum erotischen Reimgespinst, nie aus den Augen verloren. Als Beispiel mag ihre Beschäftigung mit der bedeutenden jüdischen Dichterin Gertrud Kolmar dienen, deren Spuren sich im März 1943 in Auschwitz verlieren. 1983 hat Hahn in der Bibliothek Suhrkamp eine Auswahl von Kolmars Gedichten mit einem Nachwort herausgebracht. In ihrem Gedichtband Epikurs Garten (1995) findet man das Poem Für Gertrud Kolmar. Sie spricht darin sympathetisch die Ältere, stets Einsame und Sehnsüchtige an, die kein Kind zur Welt gebracht und darunter gelitten hat: "Etwas wie Kinderweinen ist seither in deinen Gedichten".
Das hier vorgestellte, mit Gertrud Kolmar überschriebene Gedicht steht in Ulla Hahns zweitem Band Spielende (1983). Es ist an schlichtem Ernst kaum zu überbieten: karg aneinandergefügte Zeilen, reimlos; von Biedermeier keine Spur. Man sieht die Herausgeberin bei ihrer Erinnerungsarbeit, Fotokopien der Gedichte, Erzählungen und Briefe Kolmars auf den "Knien", sie langsam und immer neu studieren, wie in einem klösterlichen Raum, ganz dieser Tätigkeit des Lesens hingegeben. Zum Teil wörtlich zitiert wird aus den beiden letzten Briefen, die Gertrud Kolmar im Februar 1943 aus Berlin an ihre Schwester Hilde schrieb, der die Flucht in die Schweiz gelungen war. Die Dichterin weigerte sich zu fliehen und trat - im Vertrauen auf die Schrift, die geliebte Sprache, das Wort - "freiwillig unter ihr Schicksal".n
Ulla Hahn wurde 1946 in Brachthausen im Sauerland geboren. Sie lebt in Hamburg. Das vorgestellte Gedicht stammt aus dem Band Spielende, Stuttgart 1983.
Ulla Hahn
Gertrud Kolmar
Auf meinen Knien das Häufchen
Fotokopien wird leichter
Langsamer lesen
Mit jedem Blatt lege ich Lebenszeit ab
von einer die schrieb im vorletzten Brief:
Ganz ohne Freude bin ich freilich nicht
Sie meinte ihre Erinnerungen
Weinte mit keinem Wort
Lebte vom Leben schon sehr weit entfernt
Legte an alles Geschehen längst
den Maßstab der Ewigkeit
Trat freiwillig unter ihr Schicksal
Hatte es schon "im voraus bejaht, sich ihm
im voraus gestellt" schrieb sie
Langsamer lesen
Wir wissen nicht wo sie starb
Wir wissen nicht wann sie starb
Ihre Mörder sind bekannt
Im letzten Brief fiel ihr "eben etwas
Ulkiges ein". Versprechen und Pläne. Herzliche Grüße
Langsamer lesen
Immer wieder von vorn.
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