Linke Mythen

Zeitschriftenschau Ein beachtlicher Essay zum Wesen der politischen Korrektheit, an welcher die deutsche Linke, ihre Geschichte entsorgend, krankt, eröffnet die ...

Ein beachtlicher Essay zum Wesen der politischen Korrektheit, an welcher die deutsche Linke, ihre Geschichte entsorgend, krankt, eröffnet die Dezemberausgabe der Neuen Gesellschaft/ Frankfurter Hefte. Dabei geht es dem Autor Günter Franzen einerseits um den Bombenkrieg und die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten, andererseits um Uwe Timms erst kürzlich vom ideellen Gesamtfeuilleton gefeierte Familienbiografie Am Beispiel meines Bruders. Zu beiden Phänomenen hat sich auch unser Außenminister geäußert, im ersten Fall in einem leicht gereizten Ton, man möge ihn doch endlich mit derlei Geschichten von Bombennächten und Vertreibung verschonen. Uwe Timms Buch hingegen hat er wärmstens empfohlen, denn dort werde "mit sehr viel Mitgefühl die ganze Ambivalenz deutschen Erinnerns herausgearbeitet".

Viel Mitgefühl zeige Timm, ein ehemaliger DKP-Mann, durchaus, findet Günter Franzen, aber wohl eher mit sich selbst. Auf jeden Fall verweigere er solches Mitleiden dem älteren Bruder, der 1943 mit 18 Jahren freiwillig der Waffen-SS beitrat, vor Kursk in der Ukraine beide Beine verlor und dort noch im selben Jahr starb.

Erhalten haben sich von diesem Kindersoldaten ein paar Briefe an die Eltern, darunter rührend aufmunternde Worte nach der schweren Verwundung, sowie ein schmales Tagebuch. Keine der kargen Eintragungen weist darauf hin, der Bruder könnte an der Ermordung von Juden und anderen Zivilisten beteiligt gewesen sein. Obwohl es also keine Indizien gibt, flickt Timm, so Franzen, "die Leerstellen mit Zitaten aus Christopher A. Brownings SS-Studie Ganz normale Männer".So werde der Leser behutsam "ans sichere Ufer der frommen Denkart geleitet". Uwe Timm, meint Franzen, könnte "der Großvater dieses in der Weite Russlands verschollenen Neunzehnjährigen sein. Er könnte sich seines Bruders erbarmen".

Was hindert ihn daran? Die politische Korrektheit der moralisierenden Linken, eine philiströse "Selbstgefälligkeit", die stets zu wissen glaubt, wer in der Geschichte der Gute und wer der Böse ist, und die mitläuferhaft immer auf der richtigen Seite steht? Will man sich tatsächlich "über die Identifikation mit den Opfern des Nationalsozialismus der eigenen Humanität versichern?" Wäre das nicht ein Missbrauch der Opfer?

Es ist ebenso absurd wie bezeichnend, dass die bewaffneten Kämpfer um Baader und Meinhof sich den Kriegsnamen der Roten Armee aneigneten, als wollten sie es so ihren Eltern noch einmal heimzahlen. Lebt der Mythos RAF nach über 30 Jahren noch, fragt Richard Herzinger im gleichen Heft der Neuen Gesellschaft, und muss er unbedingt in einem Museum ausgestellt werden: Wenn man den lebenslänglich einsitzenden Christian Klar im Fernsehgespräch mit Günter Gaus betrachte, mit schwacher, brüchiger Stimme an seiner Ideologie festhaltend, müsse man daran zweifeln. Klar wirke wie ein versprengter Soldat, "den man nach Jahrzehnten in seinem Versteck aufgefunden hat und der nicht glauben will, dass der Krieg längst vorbei ist."

Wenn die RAF ein Mythos sei, dann ein Trivial-Mythos der Medien- und Werbewelt, so Herzinger. Ihre Protagonisten waren niemals tragische Helden, sondern "Anhänger einer totalitären Ideologie, die sie mit Gewalt durchsetzen wollten", aber auch mit Propagandalügen und Manipulation der Sympathisanten. Auch wenn die meisten radikalen Linken den Terrorismus der RAF als strategische Sackgasse ablehnten, hielten sie ihn doch "für eine Facette des großen weltrevolutionären Aufbruchs", den sie in einer "epochalen Selbsttäuschung" für die siebziger Jahre erwarteten.

In diesen Zusammenhang gestellt, war die RAF, so Herzinger, "nicht mehr als eine besonders bösartige, perverse Fußnote". Wer sie heute aus diesem Kontext herausheben wolle - und sei es unter der Maßgabe der "Arbeit am Mythos" - stricke ungewollt selbst am Mythos mit.

Der Wirbel um die "Affäre Wallraff" ist vorüber, und schon scheint alles vergessen. Kein Wort auch über die vielen westdeutschen Intellektuellen, die der Stasi zugearbeitet haben sollen. Karl-Wilhelm Macke nützt die Windstille, um darauf hinzuweisen, dass eben nicht alle linken Köpfe in den sechziger und siebziger Jahren dem kargen Reiz des DDR-Kommunismus und seiner Denunziationsapparate erlegen sind, "weil ihr vielleicht träumerisches Ideal vom Sozialismus mit der Wirklichkeit des Sozialismus im Osten nicht vereinbar gewesen ist". Macke erinnert an die Aktivitäten des "Sozialistischen Büros" in Offenbach, das sich "selbst in den Hochzeiten der DDR-Vergötterung durch Teile der westdeutschen Linken" nicht instrumentalisieren ließ. Ja, es gab eine "andere" Linke, aber ist sie nicht auch, gleichzeitig mit ihrem stalinistischen Widerpart, untergegangen?

Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte: Heft 12, Dezember 2003 (Hiroshima-Straße 17, 10785 Berlin), 5,50 EUR


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