Lüge und Wahrheit

Zeitschriftenschau Kolumne

Eine neue Zeitschrift namens Kultur Gespenster ist anzuzeigen, eine in Hamburg erscheinende Vierteljahrsschrift von professionellem Zuschnitt, ausgeschmückt mit Gemälden, Montagen, Comics und Modefotos. Das Magazin pflegt jedoch auch einen theoretischen Anspruch, was Literatur, Kunst, Philosophie und Musik betrifft. Gemacht wird es offensichtlich von jüngeren (Literatur-)Wissenschaftlern, die noch über ausreichend Muße und Einfälle verfügen und nicht ganz frei vom redseligen Zeitgeist und seinem mitunter angestrengten Vokabular sind.

Die zweite Ausgabe versammelt auf sage und schreibe 400 Seiten gescheite Essays, Abhandlungen, Interviews, Kunstkritiken und Buchrezensionen. Vergnügen bereitet beispielsweise die erneute Lektüre von Robert Neumanns brillantem Text Spezis in Berlin, eine bitterböse Polemik gegen die Gruppe 47 aus dem Jahr 1966, die damals erregte Debatten auslöste, zumal die Angegriffenen noch an den Fleischtöpfen saßen. Aufgespießt wird die bis heute gängige Lobhudelei, die ungehemmte, fast mafiose Bereitschaft eines Klüngels von "zweitklassigen" Autoren, sich wechselseitig hochzuloben und Literaturpreise zuzuschanzen. Auch der vielgepriesene Walter Höllerer kommt bei Neumann als flinker "Überalldabei" schlecht weg, von Hans Werner Richter gar nicht zu reden.

Etwas läppisch nimmt sich dagegen der ebenfalls schon bejahrte Beitrag des geschätzten März-Verlegers Jörg Schröder aus. Er stammt noch aus jener Zeit, als Jan Philipp Reemtsma aus guten Gründen darauf bedacht war, nicht fotografiert zu werden, beziehungsweise Fotos von sich aus dem Verkehr zu ziehen. Schröder indes machte sich 1984, mit einer albernen Damen-Perücke verkleidet, zu einer Arno Schmidt-Gedenkfeier auf, um dort Reemtsma, von dem er annahm, er verberge sich hinter dem angekündeten Festredner Heiko Postma, abzulichten. Dabei dürfte ihm schon damals klargewesen sein, dass es sich bei Heiko Postma um einen real existierenden Redakteur der Zeitschrift die horen und nicht um ein Pseudonym des "dumpfen Reemtsma" handelte.

Dem drogenkonsumierenden Apo-Aktivisten Bernward Vesper widmet Mathias Brandstädter seine Aufmerksamkeit. Er wirft auch einen neuen Blick auf sein Erfolgsbuch Die Reise, das er nicht als mehr oder weniger authentisches Tagebuchformat, sondern als ein "auffallend wohlkalkuliertes Textgefüge mit verschiedenen narrativen Abstraktionsgraden" definiert. Die Methode des "Umformulierens und Neukodierens" von tradiertem Material finde man ähnlich schon im Werk von Bernwards geächtetem Vater, dem NS-Barden Will Vesper. Schwerpunktthema ist das Interview als literarische Form. Auch hier geht es zunächst darum, das scheinbar Authentische zu hinterfragen. Denn das rohe Material wird in aller Regel beim Transskribieren geschnitten und umformuliert, ganze Passagen werden weggelassen oder dazuerfunden. So entstehen neue Erzählformen, wie Jan-Frederik Bandel ausführt, eine "Kunstsprache, die fließt und stockt, sucht und widerruft." Hubert Fichte etwa sah im Interview eine eigenständige literarische Form, die sich auch als Inszenierung oder Ritual beschreiben lässt. Er hielt dem jeweiligen Partner nicht einfach ein Mikrofon entgegen, er brachte vor allem seine eigenen Erfahrungen und sexuellen Interessen mit ein. Ähnlich verhält sich Alexander Kluge in seinen artistischen, beharrlich nachhakenden, den Gesprächsgast (und natürlich sich selbst) in seiner Eigentümlichkeit erkennbar machenden Fernsehsendungen.

Mit Thomas Bernhard ein Interview zu führen, war schwierig. Denn der war überzeugt, dass ein Gespräch zwischen Menschen, die sich nicht kennen, unmöglich ist: "Leute, die ein Gespräch führen wollen, sind mir sowieso schon verdächtig." Trotzdem hat Bernhard relativ viele Interviews gegeben. Seine launigen Unterhaltungen mit Journalisten hat er nicht als Kommunikation verstanden, sondern als Kunst, genauer: als Verweigerungskunst und virtuose Rollenprosa. "Es gibt fast nur opportunistische Schriftsteller", wetterleuchtet der Dichter in einem in Kultur Gespenster erstmals auf deutsch veröffentlichten Gespräch aus dem Jahr 1986, das Werner Wögerbauer in einem Wiener Caféhaus mit ihm führte. Man meint fast Robert Neumann zu hören: "Entweder hängen sie sich rechts an oder links, marschieren dort oder da... Der eine arbeitet mit seiner Krankheit und seinem Tod und kriegt seine Preise, und der andere rennt für den Frieden herum und ist im Grunde ein gemeiner blöder Kerl."

Im Gespräch mit Anne Schülke bemerkt der Literaturkritiker Hubert Winkels, dass Interviews in literarischen Texten eher selten vorkommen. Eine gewisse Hochzeit gab es in den sechziger Jahren im Zusammenhang mit der Dokumentarliteratur, bei Günter Wallraff und Erika Runge etwa. Die Fiktion galt damals per se als bürgerlich-abgehoben, während das scheinbar Authentische für aufklärerisch und realitätsnah gehalten wurde. Heutzutage, da unser öffentliches Leben, Radio und Fernsehen nur noch aus glatten Interviews mit Politikern und Sportlern sowie Talkshows zu bestehen scheinen und klassische Ein-Stunden-Gespräche wie die von Günter Gaus nicht mehr vorstellbar sind (es sei denn bei Alexander Kluge), erweist sich das Interview - so der Radiomann Winkels - "als Medium der Lüge schlechthin", als eine Art Unkraut, das alles überwuchert.

Lose Blätter nennt sich eine hochsensible Zeitschrift für Literatur, die bereits im 10. Jahrgang in Berlin erscheint. Es sind schmale, nur 32 Seiten umfassende Hefte, die Gedichte, Prosastücke, Essays, gelegentlich auch Fotos enthalten, klug und kenntnisreich zusammengestellt von Renatus Deckert und Birger Dölling. Über die literarische Form der Aufzeichnung äußert sich im jüngsten Heft Ursula Krechel. Sie spricht von einem System, "das Splitter, Montageteile, Notate ausstellt und keinen denkerischen oder erzählerischen Zusammenhang behauptet." Die Aufzeichnung hat keinen Helden und - anders als der Brief - auch kein Gegenüber. Sie entblößt ihren Verfasser nicht so weit, wie das Tagebuch es gestattet. Sie hält "die Unsicherheit des Vorläufigen" aus, ist stets sprungbereit und schneller als eine geschlossene Erzählform - ein Zeugnis der Wachheit. Wie schon ein Blick in die entsprechenden Bücher von Elias Canetti, Botho Strauß oder Peter Handke zeigt, ist die Aufzeichnung eine poetische Grundgebärde der Literatur. Vielleicht, meint Ursula Krechel, kommt es ja nur darauf an, "die Einzigartigkeit einer Erfahrung zu behaupten." Die Besonderheit des Sehens, Hörens, Wahrnehmens und Denkens beweise sich "in der Sprache".

Mit einer eindrucksvollen Rede hat sich der Dichter und (Hanser-)Verleger Michael Krüger für die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Bielefeld bedankt. Er erinnert an das Glück der Jahre um 1968, an den "unvergesslichen Rausch des Lernens und Erfassens", an das selbstverständliche Studieren der unterschiedlichsten Disziplinen. Nie wieder habe er so intensiv gelesen und diskutiert: Marx und Freud, Adorno und Hans Blumenberg durcheinander. Es waren "die schönsten Jahre meines Lebens."

Doch Krüger beklagt auch, mit scharfen Worten, die bald nach 68 einsetzende Radikalisierung des Zeitgeists und den marxistisch-leninistischen Affront gegen jede Art bürgerlicher Tradition, so auch gegen das Lesen, Lieben und Schreiben von Gedichten: "Es ist und bleibt die Schuld meiner Generation, damals nicht für Goethe und Schiller, für Hölderlin und Mörike, für Kafka und Robert Walser auf die Straße gegangen zu sein. Wir ließen es geschehen, dass in der Germanistik und dann auch in der Schule der unsäglichste, primitivste Unsinn als Literaturvermittlung und Literaturwissenschaft verbreitet wurde." Um 1970 sei etwas kaputtgegangen, so Krüger in Lose Blätter, "was nie wieder zusammengeleimt werden konnte."

Kultur Gespenster: Nr. 2, Herbst 2006 (Textem Verlag, Gefionstraße 16, 22769 Hamburg), 12 EUR

Lose Blätter: Heft 38, Herbst 2006 (Ebelingstraße 1, 10249 Berlin), 1,50 EUR


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