Der Vater der Brut

Jogis Tagebuch 13 Heute berichtet Jogi, was er von Lippenleserinnen hält und warum Bierhoff 20.000 Euro verloren hat. Außerdem sieht er einen gestrandeten Wal neben Philipp Lahm
Der Vater der Brut

Illustration: der Freitag

Dienstag, 19. Juni

In der Hölle des Boulevards ist Spiegel Online nur ein Elektro-Grill. Aber wer seine Hand mal auf einen Elektro-Grill gelegt hat, weiß, wie heiß das werden kann.

Der Tag begann mit Vogelgezwitscher und Sonnenschein, der auf meiner Nasenspitze tanzte. Und dann rufe ich diese Website auf und muss feststellen, dass sie da über eine Frau berichten, die während der Fernsehübertragungen von meinen Lippen abliest und das in aller Welt bei diesem Twitterding verbreitet. Hat diese Frau denn keinen Anstand? Ist das vielleicht strafrechtlich relevant? Ist das Ausplaudern von Staatsgeheimnissen? Ich lasse mir mein Recht, unbeobachtet zu fluchen, nicht nehmen.

Als ich noch einigermaßen verärgert zum Frühstück runterkam, saß dort zu meiner Überraschung Jerome Boateng. Nicht mit kleinen Augen, nicht mit dem Kopf auf dem Tisch, sondern eindeutig wach. Er aß ein Müsli mit Obst.
„Guten Morgen, Trainer“, sagte er.
„Morgen, Jerome. Müsstest du um diese Uhrzeit nicht noch im Club sein?“
„Das ist jetzt vorbei. War heute schon um fünf Uhr joggen. Die Luft ist herrlich um diese Zeit. Haben Sie übrigens schon den Artikel auf Spiegel Online gelesen über die Lippenleserin?“

Das überhörte ich.

„Jerome, ich weiß, du willst am Freitag gegen die Griechen spielen. Aber denkst du, das erreichst du, wenn du tugendhafter bist als Lars oder Sven oder wer auch immer? Bitte fang du nicht auch noch an, mich zu langweilen. Du bist meine letzte Hoffnung, dass auch Fußballer Spaß im Leben haben können.“
„Aber, Trainer…“
„Jerome, bitte!“
„Mmm… okay, wenn ich mich beeile, kriege ich noch den Zug nach Berlin. Bis Morgen, Trainer.“

Es ist so einfach, mich glücklich zu machen. Zufrieden setzte ich meine Runde durch den Speisesaal fort. Was machten eigentlich die ganzen Spielerfrauen hier? Richtig, ich hatte meinen Jungs ein paar intime Stunden erlaubt. Spielerfrauen gehören zu den schlimmsten Erfindungen der Evolution. Sie lenken die Spieler bloß ab, und sehen außerdem alle so aus, als würden sie Tina oder Claudia heißen. Meiner Frau habe ich verboten, mich in Polen auch nur anzurufen. Das hätte die sofortige Scheidung zur Folge, und das weiß sie auch.

Neben Philipp lag ein gestrandeter Wal.
„Na Philipp, bekommst du bald einen kleinen Bruder?“, fragte ich und legte meine Hand auf seine Schulter.
„Aber Trainer, das ist doch meine Frau, ich werde in zwei Monaten Vater.“
„Ach was, da wird das Kind ja noch vor dir eingeschult.“
„Müssen Sie sich immer so über den Philipp lustig machen?“, blökte die Spielerfrau und sah mich böse an.
„Lass mal, Claudia, der Trainer meint es nicht so. Trainer, haben Sie eigentlich schon den Artikel über die Lippenleserin gesehen? Schon 2000 likes bei Facebook.“

Ich verdrehte die Augen und ging weiter. Am nächsten Tisch saß Schweini mit seiner Freundin Sarah. Die Stimmung war angespannt.
„Nein, ich will jetzt nicht mit dir für deinen Auftritt bei Dalli, Dalli üben“, sagte er.
„Es ist aber wichtig. Du musst mir doch bloß in 15 Sekunden alle Kleidungsstücke nennen, die dir einfallen.“
„Na wenn es unbedingt sein muss.“
„Super. Also... Dalli, Dalli.“
Um es abzukürzen - „Du hast siebzehn Mal Fußballtrikot gesagt, das muss ich sechszehn mal abziehen. Bleibt ein Punkt. Und, wie war ich?“
„Du bist und bleibst eine Spielerfrau.“

Weil ich das anschließende Geflenne nicht ertragen konnte, ging ich nach draußen auf die Terrasse und setzte mich an den Tisch zu Hansi, Olli und Wolfgang Niersbach, der sich mal wieder das Rührei reinschaufelte. Wie immer, wenn es was umsonst gab. Typische Funktionärsangewohnheit. Ich möchte gar nicht daran zurückdenken, wie Sepp Blatter sich mal nicht den Nudelsalat auf den Teller schaufelte, sondern gleich die Schüssel mitnahm. Olli versuchte gerade, per Handy seine Facebook-Aktien loszuwerden.
„Hat schon jemand was von Per und Marco gehört?“, fragte ich, „die sind wohl noch immer unterwegs, um Ron-Robert abzuholen.“
„Nein, haben wir nicht“, sagte Niere. „Aber haben Sie schon von der Lippenleserin gelesen, da war ein Artikel auf Spiegel Online. Schon 3000 likes bei Facebook.“
„Wolfgang, du bist so 9:27 Uhr.“

Wir diskutierten, ob wir etwas gegen diese Frau unternehmen sollten, und einigten uns dann darauf, einfach fortan die Hand vor den Mund zu halten. So machten es auch die Spanier.

„Dann ist es vorbei mit ihrer Popularität“, sagte ich und grinste.
„Es sei denn, sie hat auch noch einen Röntgenblick“, sagte Olli, der nach Beendigung seines Telefonats 20.000 Euro verloren hatte, „man hört ja immer wieder von diesen Leuten, denen ein Sinn fehlt, dass sie mit den verbliebenen Sinnen Wunderdinge anstellen können.“
„Ja, so wie du Olli. Du hast nur noch den Tastsinn für Geldscheine aus aller Welt und der ist bei dir außerordentlich ausgeprägt.“

Da hatte ich mal wieder einen rausgehauen. Olli guckte nur blöd und zog dann ab. Den Rest des Tages konzentrierte ich mich darauf, die Anrufe von Angela Merkel zu ignorieren. Hatte diese Frau nichts Besseres zu tun? Am Abend drückte mir dann Wolfgang sein Handy in die Hand und sah mich verhältnismäßig böse an. „Sie ist dran. Jetzt sprich mit ihr!“

Ich möchte nur das Ende des Gesprächs wiedergeben.

„Und Sie meinen wirklich, dass sich Griechenland schlagen lässt, wenn wir Jens Nowotny als Libero aufstellen?“, fragte sie. „Sie wissen, dass eine Niederlage meinen Rücktritt nach sich ziehen würde, weil ich dann nicht mehr handlungsfähig wäre?“ „Bei allem Respekt, Frau Merkel, den ich nicht für Sie habe, aber ich muss erstmal darauf achten, dass ich handlungsfähig bleibe. Ihnen dürfte klar sein, dass Deutschland lieber auf seine Regierung als auf seine Nationalmannschaft verzichtet.“

Die Stille danach klang wie eine Fanfare in meinen Ohren.

Jogi Löw ist damit beschäftigt, Europameister zu werden. Sein geheimes Tagebuch muss unser Autor Sebastian Dalkowski schreiben. Der hält sich deshalb bis zum Ausscheiden der Nationalmannschaft für den Bundestrainer

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