Es ist der größte Angriff auf die spontane Reisefreiheit seit Abschaffung der Trittbretter an Straßenbahnen: Das neue Preissystem der Bahn. Die Bahncard kostet bald zwar weniger, reduziert den Fahrpreis aber auch nur noch um ein Viertel. Um mehr zu sparen, muss man sich Mitfahrer suchen. Und im voraus buchen, mindestens ein, drei oder sieben Tage, und teilweise ein Wochenende zwischen Hin- und Rückfahrt liegen lassen. Die Bahn begleitet den Wirbel um das neue System mit einer hervorragenden Werbekampagne: Diese lenkt von allem ab, was das Reisen zukünftig beschwerlicher und teurer macht. Und manchmal lügt sie wie gedruckt. Vier Slogans, vier Fallstudien.
Ab dem 15.12. hat nur noch ein Land einfachere Bahnpreise als wir: Lummerland.
Einfache Preise vielleicht schon. Schwer ist jetzt nur noch, die erwünschten Fahrscheine überhaupt zu erwerben: Denn nur ein Teil der rechnerischen Sitze eines Zugs geht in den zu 40, 25 oder 10 Prozent ermäßigten Verkauf. Die Vorverkaufsfrist von sieben, drei oder einem Tag steht nur auf dem Papier: Tatsächlich entscheiden Angebot und Nachfrage über die Zeitspanne, die vor der Buchung vergehen darf. Für manche Züge im Januar gibt es jetzt schon nur noch maximal 10 Prozent Rabatt. Die Bahn als Zugspitze der Marktwirtschaft: Die Happy Hour startet mit dem Vorverkaufsbeginn und endet, wenn das Kontingent aufgebraucht ist. Das ist wie Caipirinha auf Lebensmittelkarte.
Und glauben Sie ja nicht, mit dem ein halbes Jahr im voraus gebuchten Ticket auch sicher einen Sitzplatz zu bekommen - Reservierungen kosten extra!
Frage: Wird man jetzt bestraft, wenn man flexibel reisen will? Antwort: Davon kann keine Rede sein.
Wenn man nicht davon redet, kann davon natürlich keine Rede sein. Aber falls doch: Flexible, alleinreisende Vielfahrer sind die Schröpfmasse der Reform. Beispiel: Ein Rückfahrticket Berlin-Hamburg kostete bisher mit Bahncard etwa 50 Euro. Ab Mitte Dezember gut 70 Euro. Wenn vierzig Prozent Steigerung keine Strafe sind, was dann? Praktisch übrigens: Mit einem Schlag stigmatisiert die Bahn beide Reisetypen. Die Frühbucher als Knauser und die Spontanreisenden als verschwenderische Hedonisten.
Legen Sie sich vor dem Bahnhof noch Mann und Kind zu. Für die kostet die BahnCard nur noch 5 Euro.
Der Trend geht zum Drive-Through-Standesamt. Immerhin: Die Bahn ist rot-grüner als die Bundesregierung und hat das Ehegattensplitting abgeschafft. Verheiratet zu sein, reicht nicht mehr, um die günstigere Zweitkarte zu bekommen: Familie ist da, wo Kinder sind. Ob die Eltern nun verheiratet sind oder nicht. Und - Tusch! - auf Nachfrage gab ein Bahnsprecher sogar zu: Ja, das gilt auch für Schwule und Lesben. Wenn sie die Kinder adoptiert haben. Das geht zwar noch nicht, wird aber Zeit. Die Bahn als gesellschaftspolitische Avantgarde. Vielleicht sollte Mehdorn Minister für Gedöns werden. Das wäre ein Signal für liberale Familienpolitik mit Planwirtschaftscharakter: Die Eltern dürfen vögeln wie sie wollen und für sieben Jahre vorher angekündigten Nachwuchs gibt es 40 Prozent mehr Kindergeld.
Früher hätte nicht mal Einstein unsere Preise kapiert. Bald versteht sie jedes Kind.
Einstein im öffentlichen Raum, das sind populärwissenschaftliche Deutungen der Relativitätstheorie und die herausgestreckte Zunge. Die Bahn hat beides kombiniert: Ätsch, unsere Versprechungen sind sehr relativ! - Der Ticketpreisraum krümmt sich wie Hartmut Mehdorn vor Lachen: Wer spontan sein will oder muss, hat Pech. Jeder, aber auch jeder fordert mehr Flexibilität: Schröder. Hartz. Herzog. Der Arbeitgeber. Das Arbeitsamt. Der europäische Binnenmarkt. Tante Käthe ("Ach Kinnies, wollt Ihr nicht noch aufne Tass´ Kaff´ bleiben?"). - Früher warb die Bahn noch für den soliden Stundentakt ihrer Intercity-Züge mit zwei Liebenden, die engumschlungen auf dem Bahnsteig standen: "Eigentlich wollte sie den Zug um 13.07 Uhr... 14.07 Uhr... 15.07 Uhr... nehmen." Heute schaut Mehdorn auf die Szene und lacht sein kapitalistisches Lachen: 45 Euro Umbuchungsgebühr! Ja, er hat es verstanden: Eigne Dir knappe Güter an und bereichere Dich an ihnen! Nur weniges ist in einer wirtschaftlich depressiven Überflussgesellschaft noch so gut auszubeuten wie die flexible Inanspruchnahme von Grundversorgung. Man stelle sich vor, andere monopolistische Infrastrukturunternehmen nähmen sich ein Beispiel. Etwa die Wasserwerke. Spontan duschen kostet das doppelte, aber wer seine Maschine Wäsche eine Woche vorher anmeldet, spart 40 Prozent. Die zweite Maschine im direkten Anschluss nur noch die Hälfte, aber Waschtage vor Weihnachten und nach dem Urlaub bitte drei Monate vorher festmachen!
Das neue Preissystem selbst ist die überzeugendste Werbekampagne. Für das Auto.
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