Vergangene Woche hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) endgültig den Weg freigemacht für die vorgezogene Bundestagswahl am 18. September, indem es die Klagen der Abgeordneten Jelena Hoffmann und Werner Schulz gegen die Parlamentsauflösung durch Bundespräsident Horst Köhler zurückwies. Das Ergebnis war keine Überraschung, und weil nun der Wahlkampf ohne angezogene Handbremse rollt, wird das Urteil vermutlich bald vergessen sein. Der Tragweite der höchstrichterlichen Entscheidung entspricht das nicht: Sie hat eine eklatante Verschiebung im Kräfteparallelogramm zwischen Exekutive und Legislative bestätigt, die zuerst Helmut Kohl und dann Gerhard Schröder mit der Arroganz der Macht durchgedrückt haben. Und im Gegensatz zum Ergebnis erstaunt die Begründung durchaus.
An der Bundestagsauflösung durch eine verlorene Vertrauensabstimmung sind drei Verfassungsorgane beteiligt: Kanzler, Parlament und Präsident. Erst nach der Entscheidung des Präsidenten ist es möglich, das Bundesverfassungsgericht als Kontrollinstanz anzurufen. Spätestens seit der mündlichen Verhandlung war klar, dass das Gericht sich beeindrucken ließ von der langen Reihe anderer Verfassungsorgane, die vor ihm entschieden. Nahe gelegen hätte es, gerade diese Entscheidungskette als maßgeblichen Anknüpfungspunkt für richterliche Selbstzurückhaltung zu nehmen: Eine solche Argumentation des Gerichts, sich dem einmütigen Votum dreier Verfassungsorganen nicht entgegenstellen zu wollen, hätte zwar nicht gerade Stärke demonstriert. Sie wäre aber akzeptabel gewesen. Das Gericht jedoch ging anders vor und stellte ausgerechnet das erste Glied der Kette in den Vordergrund: Die Entscheidung des Bundeskanzlers. Dessen Einschätzung, er sei für seine künftige Politik nicht mehr ausreichend handlungsfähig, sei eine Wertung, die das Gericht nicht eindeutig und nicht vollständig überprüfen könne. Mit anderen Worten: Wenn der Kanzler meint, kein Vertrauen mehr zu genießen, kann das Gericht überhaupt nicht bemessen, ob dem so ist oder nicht.
Der Kanzler führt, und alle folgen. Eine Begründung nicht im Geiste von Klarsicht und Transparenz, ein staatsrechtlicher Skandal. Auch augurenhafte Einschätzungen des Kanzlers genießen damit das verfassungsrechtliche Wohlwollen aus Karlsruhe: Dem Gericht reicht es aus, wenn der Kanzler lediglich zukünftige Abstimmungen zu verlieren droht. Nur, das kann im Grunde immer so sein, wenn sich die Abgeordneten der freien Gewissensentscheidung ihrer Mandatsausübung bewusst sind, die ihnen Artikel 38 des Grundgesetzes garantiert. In Zukunft kann jeder Kanzler seiner Mehrheit zurufen: Folgt mir wohin ich will, oder ich löse Euch auf! - Die einzige Chance, die das Parlament dann noch hätte: Dem Kanzler sein Vertrauen aufzunötigen und ihn, den sie regieren lassen, dem sie aber nicht in allem und unbedingt folgen wollen, zu desavouieren. Eben das ist die Kanzlerdemokratie, die eigentlich niemand wollte. Aber wenn das Gericht die Einschätzung des Bundeskanzlers nicht überprüfen kann, so sollte dies dem Parlament und dem Bundespräsidenten im Grunde auch verwehrt sein. Die Entscheidung des Bundeskanzlers, die Vertrauensfrage zu stellen, mutiert unversehens zu deren Antwort, die Abstimmung im Bundestag ist Formsache, die Prüfung durch den Bundespräsidenten reine Routine und die Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts wird vollkommen überflüssig, weil unmöglich.
Das Urteil ist eine ungeahnte Selbstentmachtung des Rechts und seiner Ordnungsfunktion zu Gunsten der Macht. Den Finger in die Wunde dieser Argumentation legte die Richterin Lübbe-Wolff mit ihrem glänzenden Sondervotum, das die maßgebliche Entscheidung wenigstens beim Parlament verortet sehen möchte. Sie verglich die Vertrauensfrage mit der Frage vor dem Traualtar: Es sei eine Frage nach dem Willen, nicht nach dem Wissen, und die Willensfrage könne entscheidend nur das Parlament beantworten: Will es mit diesem Kanzler noch weiter zusammenarbeiten? Immerhin gestand Lübbe-Wolff damit den Schwerpunkt der Entscheidungskompetenz dem Bundestag zu. Im Unterschied zur Senatsmehrheit, die die Entscheidung des Bundeskanzlers für nicht nachprüfbar hält, geht es ihr so mit dem Votum der Volksvertreter. Sie spricht letztlich dem Bundespräsidenten und dem Gericht selbst die inhaltliche Prüfungskompetenz ab und gesteht dem Parlament damit ein Selbstauflösungsrecht auf Initiative des Bundeskanzlers zu, das so ebenfalls nicht in der Verfassung steht. Auch hier wabert der Nimbus einer Intransparenz, die der Demokratie weder gut tut noch inwendig ist.
Einzig der Richter Jentsch schloss sich der Argumentation der Kläger an und erkannte wie sie keine Anhaltspunkte für die politische Handlungsunfähigkeit der Regierung. Eindrucksvoll belegte er im sauber formulierten Sondervotum seine Erfahrung, die er als CDU-Politiker in Parlamenten und Regierungsverantwortung als Thüringischer Justizminister sammelte. Sein Credo: Mehrheit ist Mehrheit, Dissens auch innerhalb eines Lagers Ausdruck politischer Kultur und Vertrauen im politischen Sinne meint, auch bei vehementer Kritik die Linie des Kanzlers mitzutragen.
Wurde vor dem Urteil des BVerfG noch viel über die Legitimität und Opportunität eines Selbstauflösungsrechts des Bundestages debattiert, so bedarf es nach dem Richterspruch eines erheblichen Kraftaktes der gewählten Volksvertreter, um sich die Entscheidungskompetenz über eine vorzeitige Beendigung ihrer Legislaturperiode zurückzuerobern. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Kanzler plus der Mehrheit des Bundestages einen Freibrief ausgestellt, sich aus der Verantwortung zu verabschieden. Jede der diskutierten Varianten eines Selbstauflösungsrechts sah ein hohes Quorum vor - zwei Drittel, drei Viertel, vier Fünftel. Eine entsprechende Grundgesetzänderung würde die Voraussetzungen für eine Selbstauflösung gegenüber dem jetzigen Status quo bemerkenswerter Weise also nicht absenken, sondern erhöhen. Und ob dem Kanzler dann nicht immer noch die Möglichkeit bliebe, durch eine fingierte Vertrauensabstimmung unter dieser Hürde hindurchzulaufen, bleibt im gleichen Dunkel verborgen, das die Richter der Entscheidung des Kanzlers zugebilligt haben.
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