Es war die Strategie Wilhelms II., von innenpolitischen Problemen abzulenken, indem er Kriege führte. Die Bundesregierung dreht den Spieß jetzt um: Sie weiß mit ihrem Widerstand gegen den Irakkrieg die ganz überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hinter sich - und zettelt innen- wie sozialpolitisch Verwerfungen an, die sonst wohl kaum durchzusetzen wären. Derzeitiger Tagesordnungspunkt auf dem Sozialstaatsabrissplan: Die Abschaffung der Parität in der Sozialversicherung. In der Reinform existiert die hälftige Übernahme der Kosten für Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung spätestens seit der Einführung von Zuzahlungsbeträgen für Arzneimittel nicht mehr. Aber jetzt sollen weitaus größere Stücke aus de
der Parität herausgebrochen werden. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) kündigte vergangene Woche an, das Krankengeld solle künftig nicht mehr zur Hälfte von den Arbeitgebern, sondern vollständig von den Arbeitnehmern abgesichert werden. Derzeit zahlen die Kassen bei Arbeitsunfähigkeit nach der sechsten Krankheitswoche maximal 78 Wochen lang bis zu 90 Prozent des Nettolohns. Das Krankengeld ist ein altes Element der sozialstaatlichen Umorientierung in Folge der industriellen Revolution. In Deutschland erhielten es zuerst die Bergarbeiter, im Jahr 1854. Den Zechenbetreibern war klar: Nur, wenn sie angesichts der schweren und aufreibenden Arbeiten vor Ort für die Gesundheit der Kumpel sorgten, konnten sie sich deren Arbeitskraft auf lange Sicht sicher sein. Dazu gehörte auch, die Arbeiter in Zeiten der Krankheit kalkulierbar und jedenfalls auf einem Mindestmaß finanziell zu unterstützen: So konnte die familiäre, die soziale Infrastruktur aufrechterhalten werden, die nach der Genesung den Wiedereinstieg in die Arbeit ermöglichte. Populär und für größere Kreise der Arbeiterschaft zugänglich machte das Krankengeld Bismarck mit seiner Sozialgesetzgebung. Die 1883 erlassene Krankenversicherung sah die Hälfte des Einkommens als Krankengeld vor. Wie hinter dem gesamten Werk der Bismarckschen Sozialversicherung, stand auch hinter dem Krankengeld der Gedanke des sozialen Friedens - und ein kluger Schachzug gegen den wachsenden Kommunismus. Die Idee: Wenn die Arbeiter auch in Zeiten von Krankheit und Not nicht verelenden, würden sie vielleicht doch den Eindruck haben, mehr verlieren zu können als ihre Ketten. Das Kalkül ging auf, die deutsche Sozialversicherung ermöglichte neben anderen Elementen des Sozialstaats, von Arbeitern und Kapitalisten nicht als von erbitterten Feinden - sondern von Sozialpartnern zu sprechen. Die paritätische Übernahme der Kosten erfüllte dabei eine unschätzbare Doppelfunktion. Zum einen verteilte sie das Finanzierungsrisiko angesichts von Beitrags- und Konjunkturentwicklung auf Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Zum anderen symbolisierte sie die gemeinsame Verantwortung für die zentrale Interessenschnittstelle: die Arbeitskraft. Die Arbeiter hatten nichts anderes zu verkaufen, die Arbeitgeber bedurften ihrer dringend, um Profite erwirtschaften zu können.Heute, in Zeiten von weit über vier Millionen Arbeitslosen, glaubt auch die rot-grüne Bundesregierung die Arbeitgeberseite aus der Verantwortung für die Regeneration der oft gerade im Beruf verschlissenen Arbeitskraft entlassen zu können. Dass die Arbeitnehmer das Krankengeld selbst finanzieren sollen, heißt übersetzt: Sie sollen das Risiko krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit tragen. Daran ändert wenig, wenn die Übernahme des Krankengeldes - zunächst? - als Pflicht im Rahmen der Krankenversicherung gestaltet wird und es also keine individuelle Versicherungsentscheidung gibt. Von den Folgeproblemen abgesehen, etwa der Behandlung von Rentnern: Derzeit tragen sie über den Krankenversicherungsbeitrag einen fiktiven Anteil am Krankengeld mit, auch wenn sie es nie in Anspruch nehmen können. Werden auch sie pflichtversichert, oder kündigt Rot-Grün auch noch die Generationengerechtigkeit auf, indem mit der Krankengeldversicherung nur die Beschäftigten belastet werden?Krankengeld ist Sozialversicherungsleistung - kein Almosen, sondern Regenerationshilfe für genuin sozialnützliche Arbeitskraft - und Element sozialen Friedens. Der ihn tragende Konsens aber wankt nicht nur, er bröckelt: Es sei »nicht einzusehen«, warum die Arbeitgeber die Gesundheitsversorgung der Arbeiter überhaupt hälftig bezahlen sollen, schrieb die FAZ in dieser Woche schnippisch. Zurück zu den Wurzeln der sozialen Spannungen also. Als Bismarck die Krankenversicherung einführte, lag der Beitragssatz bei sechs Prozent. Derzeit sind es je nach Kasse etwa 14 - sie unter 13 Prozent zu senken, hat Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung von Mitte März angekündigt. Die Lasten einseitig den Arbeitnehmern aufzubürden, ist aber nur eine Mimikrylösung: Der Beitragssatz sinkt nominal, weil die Arbeitnehmer einen immer größer werdenden Anteil selbst bezahlen müssen - das Krankengeld dürfte da nur ein erster Schritt sein. Derart an der Parität zu sägen, offenbart eine perfide Renaissance der ökologischen Ex-und-hopp-Mentalität im Bereich der Sozialpolitik: Wer sich nicht selbst recyceln kann, hat Pech.