Festbeträge trotz Europa?

Kassen als Unternehmen Wie viel Wettbewerb verträgt das deutsche Gesundheitssystem? Die Frage liegt nun vor dem Europäischen Gerichtshof

Der ohnehin fragilen Stabilität des Gesundheitssystems droht Ungemach. Das Landgericht Frankfurt hat den Streit um die niederländische Internet-Apotheke DocMorris vergangene Woche dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt. Am Wochenende scheiterte das Vorhaben der Bundesregierung, einen Mindestbeitrag für die gesetzliche Krankenversicherung festzulegen, am Widerstand der Grünen. Und am Montag verhandelt der Bundesgerichtshof (BGH) darüber, ob die Krankenkassen Höchstbeträge für die Erstattung von Arzneimitteln festsetzen dürfen.

Die Kassen können seit der "Gesundheitsreform" 1988 festlegen, bis zu welcher Höhe sie die Kosten bestimmter Medikamente übernehmen. Das soll einerseits die Gesamtkosten senken und andererseits den Wettbewerb anregen. Die Idee: Pharmaunternehmen produzieren und vermarkten Medikamente nur dann zu niedrigen Preisen, wenn sie dazu gezwungen sind. Die in Karlsruhe klagenden Pharmafirmen wenden dagegen ein, das europäische Kartellrecht verbiete eine solche Regelung. Tatsächlich untersagt Artikel 81 des EG-Vertrages Unternehmen unter anderem, Preise festzusetzen. Die wohl wichtigste Frage: Sind die Spitzenverbände der Krankenkassen, die die Preise für Medikamente festlegen, Unternehmen? Nein, sagen die Befürworter der Festbetragsregelung: Die Kassen begrenzten nur den Anspruch der Versicherten, um eine finanzierbare medizinische Versorgung Aller zu gewährleisten. Doch, sie sind Unternehmen, sagen die Gegner. Hauptsächlich würden die Kassen das Verhältnis zwischen sich und den Arzneimittelproduzenten regeln, denn die Kassen seien die "Nachfrager" der Medikamente - jedenfalls rechtlich gesehen. Eine schwierige Frage, über die der EuGH noch nicht entschieden hat. Nationale Gerichte wie der Bundesgerichtshof können europarechtliche Fragen gleichwohl entscheiden, wenn die Haltung des EuGH für sie unzweifelhaft ist. So war es beim Oberlandesgericht Düsseldorf, dem der jetzt zu verhandelnde Fall zuletzt vorlag. Das nordrhein-westfälische Landessozialgericht war sich im September letzten Jahres nicht so sicher: Es legte die gleiche Frage in einem ähnlichen Fall dem EuGH zur Entscheidung vor.

Das Verfahren der Preisfestsetzung ist komplex. Beteiligt sind Ärzte, Krankenkassen und das Bundesgesundheitsministerium, die Krankenkassen müssen zudem die Höchstbeträge gemeinsam und einheitlich festlegen. Wie kompliziert und vielschichtig die Materie ist, zeigt sich auch an den bisher befassten Gerichten, zu denen sowohl Zivil- als auch Sozialgerichte gehören. Darin spiegeln sich die beiden Hauptargumente wider: Die Krankenkassen als preisbildendes Kartell - oder als Anspruchsregulierer zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen.

Die BGH-Verhandlung am Montag kann in ein Urteil zugunsten der Preisfestsetzung - oder der Pharmafirmen münden. Wahrscheinlicher ist es aber, dass die Richter die europarechtlichen Fragen dem EuGH vorlegen. Sie würden damit nicht nur eine Klärung des seit der Gesundheitsreform umstrittenen Verhältnisses zwischen Preisfestsetzung und Europarecht herbeiführen, sondern sich außerdem nicht dem Vorwurf aussetzen, nationale Abschottung respektive die Demontage des Gesundheitssystems zu betreiben. Die Richter des EuGH dagegen haben keine Möglichkeit, sich der Entscheidung zu entziehen: Sie werden früher oder später ohnehin Stellung zu der Frage nehmen müssen, ob das wettbewerbsfreundliche Europa die deutsche Höchstbetragsregelung zulässt.

Gesichtspunkte des freien Wettbewerbs gegen die Arzneimittelhöchstbeträge ins Feld zu führen, ist im Grunde grotesk: Denn ein im Sinne von Angebot und Nachfrage funktionierender Markt für erstattungsfähige Arzneimittel existiert nicht. Die Patienten sind es, die die Nachfrage auslösen - aber sie reagieren nicht auf das möglicherweise differenzierte Angebot. Kein Patient verzichtet auf ein verschriebenes Medikament, weil es zu teuer ist. Die wenigsten nur verlangen von ihrem Arzt oder der Apotheke ein günstigeres, aber gleich wirksames Medikament. Das liegt zumindest auch daran, dass für gesetzlich Versicherte die Kosten eines Medikaments gar nicht sichtbar sind. Das wesentliche Instrument des vielbeschworenen Marktes, der Preis, bleibt dem Versicherten regelmäßig verborgen. Und dennoch ist es nicht abwegig, aus europäischer Perspektive einen stark regulierten Markt festzustellen.

Für die Arzneimittelhersteller kann der Schuss auch nach hinten losgehen. Das Beispiel Buchpreisbindung zeigt: Nicht immer sollen oder können lediglich Angebot und Nachfrage über den Preis bestimmen können. Die Bundesregierung überlegt derzeit, die Buchpreisbindung gesetzlich zu regeln. Ein ähnlicher Schritt könnte auch als Reaktion auf ein drohendes Verbot der Festbetragsregelung durch die Krankenkassen herhalten. Es ist sehr fraglich, ob dadurch irgendjemandem - den Versicherten, dem Gesundheitssystem oder den Pharmafirmen - wirklich geholfen wäre.

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