"Zwei Vertreter höchster Verfassungsorgane erklären dem hohen Senat zwei ungeschriebene Tatbestandsmerkmale des Art. 68 GG", beobachtete der ehemalige Politologieprofessor und promovierte Jurist Wilhelm Hennis während der mündlichen Verhandlung zur Bundestagsauflösung. Die FAZ hat den Satz im Faksimile nachgedruckt. Er stand auf einer Postkarte. Die Vorderseite zeigte: Zwei Kamelköpfe mit Maulkorb.
Es war wohl eine bizarre Veranstaltung zu den Klagen der Abgeordneten Jelena Hoffmann und Werner Schulz gegen die Entscheidung des Bundespräsidenten, den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Für gewöhnlich will man in Gerichtsverhandlungen klären, wie es sich wirklich zugetragen hat und welche rechtlichen Schlussfolgerungen daraus z
gerungen daraus zu ziehen sind. Nur: Die inszenierte Wirklichkeit konnte seit der Neuwahlankündigung jeder beobachten, und die Rechtsfragen sind mittlerweile zu Glaubensfragen mutiert, auf beiden Seiten. Statt Bibel muss das einzige Urteil zum Thema Vertrauensfrage herhalten, das es gibt: Aus dem Jahre 1983, als Helmut Kohl die Vorlage für Schröders heutiges Vorgehen schuf. Jeder beruft sich auf das Urteil, jeder legt es anders aus. Die Würze erhielt die Verhandlung durch die Fragen der Bundesverfassungsrichter, die hin- und hergingen, als wollten sie bei den Beobachtern Tennisnacken provozieren: Ob die damalige Deutung der Vertrauensfrage nicht förmlich zu einer Inszenierung einlüde (Richterin Lübbe-Wolff, Punkt für die Kläger). Der Hinweis, Roland Koch regiere in Hessen mit einer Stimme Mehrheit und sei sehr froh darüber (Richter Jentsch, Punkt für die Kläger). Ob das ungeschriebene Merkmal der materiellen Auflösungslage nicht geradezu willkürlich in den Art. 68 GG hineingelesen worden sei (Punkt für die Beklagten) und ob nicht die Feststellung des Mehrheitsverlustes des Kanzlers ausreiche (eigentlich Punkt für die Kläger, also patt - Gesamtfrage von Lübbe-Wolff). Woher die Kläger denn so sicher seien, dass der Kanzler eine stabile Mehrheit gehabt habe (Richter Di Fabio, Punkt für die Beklagten).Die heterogene Zusammensetzung des Senats erzeugt Spannung. Mit Gertrude Lübbe-Wolff auf der linksliberalen und Udo Di Fabio auf der konservativen Seite stellen beide politische Lager sehr meinungsstarke Richter. Di Fabio spielt eine besondere Rolle als federführender Berichterstatter. Er ist promovierter Jurist und Soziologe und hat kürzlich ein Buch veröffentlicht, dessen Titel in schwarz-rot-goldenen Lettern das Thema schmückt: Die Kultur der Freiheit. Gemeint sind wohl eher die Freiheit und die Stärke der klassischen Werten verpflichteten abendländischen Kultur. Seine Eingangsfrage ist brisant: Statt "wohnst Du noch oder lebst Du schon?" wollte er wissen, ob wir noch in einer Parlaments- oder schon in einer Kanzlerdemokratie leben. Wer führt die Republik? Letztlich aber wird die Entscheidung kaum an politischen Lagergrenzen gefällt. Der zentrale Topos lässt sich nicht in ein Links-Rechts-Schema einordnen: Die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht drei anderen Verfassungsorganen - Bundestag, Bundesregierung, Bundespräsident - in die Parade fahren darf. Eine Antwort könnte sein: Natürlich darf es, dafür sind Gerichte schließlich da, um ohne Ansehen der Person Recht zu sprechen. Aber das Gezerre an Justizias Augenbinde ist groß in Karlsruhe und Berlin. Das Diktum des Bundestagspräsidenten Thierse, es stehe dem Bundesverfassungsgericht nicht zu, über die freie Entscheidung von Abgeordneten zu urteilen, erinnert an die Anfangsjahre des Gerichts, als der nahezu übermächtige Bundeskanzler Adenauer nach einer verlorenen Machtprobe mit dem Gericht meinte: "Dat ham wir uns so nicht vorjestellt."Di Fabio ließ vage erkennen, den Bundespräsidenten als Kontrollinstanz anerkennen zu wollen. Wahrscheinlich wird es so kommen. Eine Verlagerung der Kompetenz vom Recht zur Macht. Es würde dann viel an der Urteilsbegründung liegen, inwiefern das Gericht seine Stärke und damit die des Rechts gegenüber arroganten Hau-Ruck-Verfahren dennoch zu reklamieren versteht. Gut möglich, dass es die Neuwahlen durchwinkt bei zwei abweichenden Voten - einem, das den Machbarkeitshabitus kritisiert und einem mit scharfer rechtswissenschaftlicher Kritik. Der Vorsitzende Hassemer hat ein schnelles Ergebnis angekündigt - wahrscheinlich zu Beginn kommender Woche. Hieraus das Ergebnis ablesen zu wollen, wäre jedoch voreilig: Gerade wenn das Gericht den Coup als Fake entlarvt, gebietet ihm die Treue zu den anderen Verfassungsorganen Eile, damit Parlament und Parteien nicht zu arg ins Straucheln geraten. Die Bundesverfassungsrichter können nicht wieder gewählt werden. Diese Freiheit privilegiert sie gegenüber den anderen Organen, die früher oder später auf das Wohlwollen der Mehrheit angewiesen sind. Im Bewusstsein dieser Freiheit zu entscheiden, wäre gewiss kein falscher Stolz. Eindeutig ist der Kaffeesatz nicht.