Die Entscheidung der Verfassungshüter ist so klar und eindeutig wie selten: Der Verteidigungsminister darf der Bundeswehr nicht befehlen, eine Gruppe unschuldiger Menschen zu töten, um eine andere zu retten. Als die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts vergangenen Mittwoch das Luftsicherheitsgesetz kippten, entlarvten sie die Ermächtigung zum Abschuss eines Passagierflugzeugs als doppelt verfassungswidrig: Zum einen darf die Bundeswehr nicht mit militärischen Mitteln im Inland eingesetzt werden, um Gefahren abzuwehren, also polizeilich zu agieren. Zum anderen verstößt es gegen das Grundrecht auf Leben aus Art. 2 und die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 des Grundgesetzes, etwa die Passagiere eines entführten Flugzeugs zu töten, um eine Kollision mit einem wahrscheinlichen Ziel abzuwenden.
Theoretisch hätte sich der Erste Senat mit dieser Frage gar nicht auseinandersetzen müssen, denn für den Erlass der Norm fehlte es dem Bund schon an der Kompetenz, die Bundeswehr zur Gefahrenabwehr im Inland einzusetzen. Dass er dennoch gleichsam "durchentschieden" und die Abschussermächtigung wegen beider Kritikpunkte für nichtig erklärt hat, offenbart die besondere Verve des liberalen Signals aus Karlsruhe. Das Grundgesetz erlaubt die Aufstellung von Streitkräften nur zur Landesverteidigung und ihre sonstige Verwendung nur in eng und eindeutig definierten Ausnahmesituationen: etwa schweren Naturkatastrophen wie der jüngsten Notlage durch übermäßigen Schneefall in Ostbayern oder auch der Vogelgrippe auf Rügen. Die innere Sicherheit zu garantieren, ist hingegen Sache der Länderpolizeien. Das hat zunächst historische Gründe: Nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, die die vormalige Reichswehr als Wehrmacht für nahezu jedwede politische Zielvorgabe zu instrumentalisieren verstand, war neben der Entnazifizierung die Entmilitarisierung ein erklärtes Ziel der Alliierten. Der Wiederaufbau einer Armee war der Bundesrepublik zu Anfang nicht gestattet. Erst der Wunsch insbesondere der USA und Großbritanniens, auch die Bundesrepublik möge ihren Beitrag zum Aufbau einer westlichen Militärstruktur leisten, führte zur Londoner Akte von 1954 und damit zur Aufnahme der Bundesrepublik in die Westeuropäische Union und die NATO 1955. Die Zielvorgabe war eindeutig: Die Bundesrepublik sollte in ein kollektives Verteidigungssystem eingebunden werden und damit die geostrategische Funktion militärische Präsenz am Eisernen Vorhang erfüllen, ihr Heer aber nicht mehr eigenmächtig führen können - und im Inneren hatte die Armee gar nichts zu suchen. Im Sinne der Dezentralisierung hatten allein die Länderbehörden für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Zwar hat sich seit dem "Zwei-plus-Vier-Vertrag" von 1990, der den Beitritt der DDR zur BRD vorbereitete, die völkerrechtliche und auch politische Situation verändert: Heute dürften weder die USA noch Großbritannien etwas dagegen haben, falls Deutschland seine Armee auch im Innern einsetzt.
Jedoch bleiben die Argumente für die Trennung bestehen: Schon jetzt nimmt die Polizei eine Zwitterrolle ein. Sie ist nicht nur für die Gefahrenabwehr zuständig sondern agiert auch als Hilfsbehörde der Staatsanwaltschaft bei der Strafverfolgung. In beiden Fällen muss sie abwägend und tendenziell deeskalierend auftreten. Die auf einer eindeutigen Freund-/Feind-Kennung beruhende Aktion des Militärs hingegen setzt auf die gewaltsame "Lösung" eines Konflikts. Das spiegelt sich auch in der Ausbildung wider: Die dreijährige Ausbildung eines Polizisten beinhaltet auch Methoden alternativer Konfliktbewältigung, während Soldaten regelmäßig sehr viel kürzer geschult werden, den Feind physisch zu bekämpfen.
Dennoch läuft die Debatte um den Einsatz der Bundeswehr im Innern auf vollen Touren. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) hätte die Bundeswehr gern schon zur Fußballweltmeisterschaft eingesetzt, sieht sich durch das BVerfG-Urteil daran ohne vorherige Grundgesetzänderung jedoch gehindert. Die erforderliche Zweidrittelmehrheit im Bundestag würde derzeit an der SPD, diejenige im Bundesrat wohl zusätzlich an der FDP scheitern. Für die WM erwägt die Union eine Abordnung von Soldaten zu den Länderpolizeien, die beamtenrechtlich zwar grundsätzlich möglich ist, sich aber im Grunde auf Einzelpersonen und nicht auf ganze Truppenteile bezieht. Der Union aber geht es um mehr als die Sicherung von Fußballstadien, und deshalb setzen Hardliner wie der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Union im Bundestag, Wolfgang Bosbach, oder der brandenburgische CDU-Innenminister Jörg Schönbohm auf eine Verfassungsänderung.
Es liegt damit an der SPD, ob Militär und Polizei in Deutschland weiterhin getrennt bleiben. Eine unsichere Kantonistin, zumal das teilweise für nichtig erklärte Luftsicherheitsgesetz nicht nur auf den früheren Bundesinnenminister Otto Schily (SPD), sondern auch auf den damaligen wie heutigen innenpolitischen Sprecher der SPD-Fraktion, Dieter Wiefelspütz, zurückgeht. Ob sich die SPD rechtzeitig von ihrem fatalen innenpolitischen Kurs der vergangenen Legislaturperiode emanzipieren kann? Sie muss. Denn jenseits aller Nützlichkeitsdebatten, die von der chronischen personellen Unterbesetzung bei den Polizeien ablenken, wohnt dem Einsatz der Bundeswehr im Innern neben sozialer Sprengkraft auch ein hoher symbolischer Gehalt inne. Wie stellt es sich die Union vor, wenn statt Polizisten, die in ihrem Dienst schon wegen der beruflichen Perspektive nicht über die Stränge schlagen wollen, Wehrpflichtige gegen gewaltbereite Hooligans eingesetzt werden, mit denen sie allzu oft die mangelnde soziale Perspektive verbindet? Und Soldaten im Innern gemahnen an Bürgerkrieg oder einfach - Krieg. Eine Verfassungsänderung, die den Militäreinsatz im Inland ermöglicht, trüge den von George W. Bush propagierten "Krieg gegen den Terror" mitsamt seiner perfiden Rhetorik von der permanenten Ausnahmesituation endgültig nach Deutschland. Die Terroristen des 11. September 2001 hätten über New York und Washington auch erreicht, dass die Berliner Republik einen weiteren Teil ihrer inneren, liberalen Verfassung über Bord wirft. Der Staat hätte sich, wie weiland gegen die RAF, in Form und Impuls dem Gegner angenähert.
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