Stunde der Staatenlenker

Missbrauch der Vertrauensfrage Wenn der Bundestag sich selbst auflösen dürfte, könnten fragwürdige Verfahren, die Neuwahlen herbeiführen sollen, vermieden werden

Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) stellt an diesem 1. Juli im Parlament die Vertrauensfrage. Ein Fake. Eigentlich eine Selbstauflösung des Parlaments, die das Grundgesetz nicht vorsieht. Ein Trick, den die meisten Parlamentarier aus unterschiedlichen Gründen mitmachen. Jedenfalls Umfragen zufolge wünscht sich auch die Mehrheit der Bevölkerung Neuwahlen. Auf den ersten Blick scheinen also lediglich formale Hürden dagegen zu sprechen, den Bundestag auf diese Weise aufzulösen. Es erscheint legitim, über eine missbrauchte Vertrauensfrage einen neuen Bundestag wählen zu lassen. Der zweite Blick offenbart anderes: Das Grundgesetz steht dem entgegen. Es gestattet eine Parlamentsauflösung nur, wenn der Kanzler zurücktritt und kein neuer gefunden werden kann oder wenn er wirklich das Vertrauen der Mehrheit verloren hat, also mit instabilen Verhältnissen regieren müsste.

Die nächste Entscheidung liegt bei Bundespräsident Horst Köhler. Er hat nun drei Wochen Zeit, das Parlament aufzulösen und einen Wahltermin anzusetzen. Oder auch nicht: Er könnte auch feststellen, dass die Voraussetzungen der Vertrauensfrage gar nicht vorlagen. Weil die rot-grüne Koalition eine stabile Mehrheit im Bundestag hat. Weil gerade die Kritiker von Schröders Sozialabbaukurs seit Wochen zwar laute Forderungen stellen, dies aber nur im Hinblick auf das Wahlprogramm, während sie im Parlament treu sind. Auch, weil der Auslöser der Neuwahldiskussion, die für die SPD desaströs verlaufene NRW-Landtagswahl, mit dem Bundestag schlicht nichts zu tun hat. Der Bundespräsident ist in einer der stärksten Rollen, die das Grundgesetz ihm zugedacht hat: Für drei Wochen hängt an ihm alles. Horst Köhler ist den vor einigen Wochen von Sozialdemokraten erhobenen Vorwürfen, er übe das Amt parteiisch aus, souverän begegnet. Gut möglich, dass der nicht aus den Tiefen der Parteipolitik stammende Köhler als unterschätzter Präsident Geschichte schreibt - und die Auflösung ablehnt.

Orientierung hierfür bietet das maßgebliche Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus dem Jahr 1983, als Kohl auf demselben Wege Neuwahlen herbeiführte. Die Richter ließen es ihm durchgehen, entwickelten jedoch für künftige Fälle Maßstäbe. Beispielsweise verlangten sie einerseits einen stetigen Verlust des Vertrauens des Parlaments - was etwas anderes ist, als ab und zu eine Abstimmung zu verlieren, und nicht einmal das ist in letzter Zeit geschehen. Andererseits billigten sie sowohl dem Kanzler als auch dem Bundespräsidenten Einschätzungsspielräume zu. Schröder hat seinen vermessen - nun ist Köhler an der Reihe. Ob die Voraussetzungen für die Vertrauensfrage vorliegen und ob - ein zweiter, gesondert zu betrachtender Schritt - das BVerfG die Vertrauensfrage durchgehen lassen würde, ist unter Staatsrechtlern umstritten. Köhler wird dabei auch die Folgen der beiden Entscheidungsalternativen im Blick haben. Akzeptiert er die Vertrauensfrage, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit noch im Sommer das BVerfG über die Frage zu befinden haben. Die dafür notwendigen Klagen werden folgen. Einige kleinere Parteien wie die ödp und die Republikaner haben Streit angekündigt, weil sie sich durch die verkürzte Wahlvorbereitung in ihrer Chancengleichheit verletzt sehen: Ihr Apparat ist nicht so groß wie der der im Bundestag vertretenen Parteien. Auch Parlamentarier mögen klagen, die keine Aussicht darauf haben, ihr Mandat über die Neuwahlen zu retten oder denen dieser Umgang mit der Verfassung aufstößt. Werner Schulz von Bündnis 90/Die Grünen wird voraussichtlich der erste sein. Anders als die Parteien, die formal betrachtet ebenso viel Zeit haben wie die Etablierten, könnten die Parlamentarier beim Verfassungsgericht erfolgreich sein. Das Urteil aus dem Jahr 1983 gibt ausreichende Anknüpfungspunkte. Insbesondere die instabilen Verhältnisse, auf die derzeit im Parlament schlicht nichts hindeutet. Und aufgrund der sukzessiven Missachtung der Verfassung durch Parlament und Regierung - wie etwa bei der kürzlichen Neuregelung des Lauschangriffs - könnten sich die Karlsruher Richter zu Recht berufen fühlen, die Autorität der Verfassung und mittelbar auch ihre eigene zu reklamieren. Die Schlappe wäre groß: Nicht nur für die Regierung und das Parlament, auch für den Bundespräsidenten.

Dieses Szenario könnte für Köhler die zweite Möglichkeit attraktiv machen: Die heutige Abstimmung als Fake zu entlarven. Die rechtlichen Möglichkeiten der Protagonisten wären dann sehr begrenzt: Der Bundeskanzler müsste den Bundespräsidenten in Karlsruhe auf Auflösung des Parlaments verklagen und liefe dann nicht nur verfassungsrechtlich auf äußerst dünnem Eis, weil er kein Recht zur Parlamentsauflösung hat, dessen Verletzung er in Karlsruhe rügen könnte - er würde darüber hinaus das Staatsgefüge der Bundesrepublik desavouieren. In diesem Aktionsvakuum läge die Chance für den Bundespräsidenten, über die Rolle als Grüß-August und Notar der Nation hinauszuwachsen und sich als oberster Diener des Staates zu profilieren, der die Sache federführend in Ordnung bringt. Denn Situationen wie diese sind misslich für die parlamentarische Demokratie, der zu dienen er mit dem Amtseid beschworen hat. Köhler könnte unmittelbar nach der Ablehnung der Vertrauensfrage die Partei- und Fraktionsspitzen mit dem Ziel zu sich rufen, eine verfassungskonforme Lösung herbeizuführen.

Und es gibt Auswege. Insbesondere eine Verfassungsänderung, die dem Bundestag ein Selbstauflösungsrecht zugesteht. Die Chancen hierfür stehen gut: Sowohl im Bundesrat als auch im Bundestag würde sich voraussichtlich die erforderliche Zweidrittelmehrheit finden. Rechtspolitisch spricht einiges dagegen. Steigende Wechsel- und Nichtwähleranteile mit den daraus folgenden volatilen Umfrageergebnissen könnten die Berechenbarkeit der Staatslenkung unterminieren, und Berechenbarkeit zu garantieren, das ist eine der Hauptaufgaben der Verfassung. Verfassungsänderungen im Hauruck-Verfahren tragen überdies den Nimbus der Beliebigkeit. Es gibt auch Vorteile: Die Transparenz staatsrechtlicher Verfahren wäre wiederhergestellt, Regierung wie Volksvertretung würde der Respekt vor der Verfassung leichter gemacht. Aber auch jenseits der Grundgesetzänderung bleibt Spielraum. Köhler könnte die Autorität seines Amtes, die ausnahmsweise auch einmal mit Macht unterfüttert ist, nutzen, um Schröder zum Rücktritt zu bewegen, der diesem nach einer abgelehnten Vertrauensfrage noch näher zu legen ist als ohnehin schon. Als Kanzlerkandidat träte er sowieso nur mit Westerwelle-Chancen an.

Es bleibt zu wünschen, dass Köhler sich in Klarheit der eminenten politischen Verantwortung entscheidet, die er trägt und die er auch ausfüllen kann. Mit dem Ruf nach einem starken Mann im Staate hat das wenig, mit der Hoffnung auf selbstbewusste Verfassungsorgane viel zu tun.


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