Die terroristischen Angriffe auf das World Trade Center vom 11. September 2001 haben tiefe Spuren im Selbstverständnis auch des deutschen Rechtsstaats hinterlassen. Ein gravierender Ausdruck hiervon ist Paragraph 14 des Luftsicherheitsgesetzes, das noch unter der rot-grünen Bundesregierung erlassen worden ist. Das Gesetz ermächtigt den Bundesverteidigungsminister dazu, Flugzeuge, die als Waffen für einen gezielten Absturz benutzt werden, abdrängen, zur Landung zwingen - und notfalls abschießen zu lassen. Dabei wird in Kauf genommen, dass sich an Bord der Maschine nicht nur Terroristen, sondern auch und überwiegend Unschuldige befinden. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) wird am kommenden Mittwoch verkünden, ob sich diese Regelung
ng mit dem Grundgesetz verträgt, das in seinen ersten beiden Artikeln die Menschenwürde und das Recht auf Leben garantiert.Die der Entscheidung zu Grunde liegende Abwägung scheint eine nüchtern-strategische und eine fundamental-philosophische Seite zu haben. Am Anfang steht die Frage, auf welche Weise Menschenleben gerettet werden können. Wenn sich in einem Flugzeug 300 Passagiere befinden und es von den Entführern in ein Hochhaus gesteuert wird, in dem sich weitere 500 Menschen aufhalten, von denen die Mehrzahl mit großer Wahrscheinlichkeit sterben wird, so liegt es auf den ersten Blick nahe, letztere zu schonen und dafür die Flugzeuginsassen früher zu töten, die etwas später "ohnehin" sterben werden.Aber schon diese strategische Überlegung stößt auf erhebliche praktische Probleme. Die Absicht der Entführer steht zweifelsfrei erst fest, wenn sich die Maschine unmittelbar vor dem Ziel befindet. Dann aber würde ein Abschuss die Trümmer in einem Gebiet niedergehen lassen müssen, in dem sich viele Menschen aufhalten. Er ist daher nur dann überhaupt zur Rettung von Leben am Boden geeignet, wenn man eine erhebliche Prognoseunsicherheit hinnähme - der Tod Unschuldiger beruhte dann zynischer Weise auf einer Wahrscheinlichkeitsüberlegung. Aber selbst wenn die Prognose zuträfe, begegnet der Abschuss erheblichen grundsätzlichen Bedenken: Der Staat würde die Passagiere opfern, um andere Menschen zu retten. Die auf Anweisung des Bundesverteidigungsministers Getöteten wären damit in gewisser Hinsicht Rettungswerkzeuge für das bedrohte Leben am Boden. Diese Instrumentalisierung von Menschen aber verbietet die Verfassung definitiv - durch die in Artikel 1 niedergelegte Garantie der Menschenwürde.Konsequenter Weise berufen sich die Verfassungsbeschwerdeführer im Verfahren vor dem BVerfG sowohl auf das Grundrecht auf Leben aus Artikel 2 als auch auf die Menschenwürde. Denn das Lebensgrundrecht steht unter einem so genannten Gesetzesvorbehalt. Es ist einschränkbar. Relevant wird dies bei einer ähnlichen Regelung, die insbesondere Ende der achtziger Jahre zu erheblichen rechtspolitischen Debatten geführt hat: Dem finalen Rettungsschuss. In einigen Bundesländern ist es der Polizei erlaubt, einen Straftäter zu erschießen, wenn es anders nicht möglich ist, etwa den unmittelbar bevorstehenden Tod seines Opfers zu verhindern. Die Menschenwürde soll dem finalen Rettungsschuss nach überwiegender verfassungsrechtlicher Auffassung nicht entgegenstehen: Nach einer gängigen Faustformel verbietet die Menschenwürdegarantie dem Staat lediglich, den Einzelnen zum bloßen Objekt seines Handelns zu machen. Der durch einen finalen Rettungsschuss Getötete hat aber gerade durch eigenverantwortliches Handeln als Subjekt den Anlass zu seinem Tod gegeben.Das ist beim Abschuss eines Flugzeugs jedoch anders: Hier würde der Staat neben den Entführern auch Menschen töten, denen nicht mehr vorzuwerfen ist, als ein Flugzeug bestiegen zu haben. Ihr vom Staat herbeigeführtes Sterben ließe sich allenfalls damit rechtfertigen, die Zahl der Gesamtopfer mutmaßlich zu senken. Tod durch Arithmetik. Als Ergebnis einer Rechenaufgabe sterben zu müssen, macht den Menschen aber gerade zum Objekt und verstößt gegen die vorbehaltlos garantierte Menschenwürde. Der Luftrechtsexperte Karsten Baumann hat dementsprechend schon während des Gesetzgebungsverfahrens zum Luftsicherheitsgesetz in einer Fachzeitschrift darauf hingewiesen, dass das Grundrecht auf Leben nicht unter einem "Quantifizierungsvorbehalt" stehen darf. Gleichwohl sind die Verfassungsjuristen geteilter Meinung: Gerade in den letzten Jahren mehren sich die Stimmen, die auch die Garantie der Menschenwürde unter einen Abwägungsvorbehalt stellen wollen.Rechtspolitisch war es ein großer Fehler der rot-grünen Koalition, den Abschuss eines entführten und zur Waffe umfunktionierten Flugzeugs überhaupt gesetzlich zu regeln. Die Regierungen von Bund und Ländern könnten und würden im Notfalle auch ohne das Gesetz handeln. Sollte es dabei zum Abschuss kommen, könnten sich die Verantwortlichen aufgrund der unauflösbaren Güterkollision - Leben gegen Leben - persönlich auf die Rechtsfigur des übergesetzlichen Notstands berufen. Das Luftsicherheitsgesetz aber versucht nicht nur paradoxer Weise, den übergesetzlichen Notstand zu Gunsten der handelnden Personen in Gesetzesform zu gießen, sondern billigt vor allem dem Staat als dem Garanten von Menschenwürde und Leben ausdrücklich zu, zu töten. Es ist ein sehr deutscher Weg, ein Dilemma lösen zu wollen, indem man ein Gesetz erlässt - hilfreich ist er nicht.Das BVerfG wird entscheiden, ob der Staat im so genannten Anti-Terror-Kampf über Leben und Würde seiner Bürger verfügen darf. Eine schwere Aufgabe mit ungewissem Ausgang. Der Vorsitzende des entscheidenden Senats, Hans-Jürgen Papier, hat anlässlich des Falles Daschner, als der Aufenthaltsort des entführten Jakob von Metzler durch Folterandrohung herausgefunden werden sollte, die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes als "unverbrüchlich" und nicht abwägungsfähig betont. Der Berichterstatter im Verfahren gegen das Luftsicherheitsgesetz ist Dieter Hömig, der auf Vorschlag der FDP zum BVerfG kam. Eine Entscheidung aus liberalem Geist zeigte dem Staat die Grenzen seiner Verfügungsgewalt auf. Den staatlichen Abschuss eines Passagierflugzeugs als verfassungswidrig zu entlarven, wäre ein beachtenswerter Schritt Hömigs, bevor dieser voraussichtlich im kommenden Monat aus dem Gericht ausscheidet.