Das sorgsam austarierte Gleichgewicht von Grundrechten auf der einen und dem staatlichen Kontrollanspruch auf der anderen Seite gerät seit eineinhalb Jahren in eine erschreckende Schieflage. Verlor nach dem Anschlag vom 11. September 2001 zunächst der grüne Koalitionspartner durch Verabschiedung der Otto-Pakete seine bürgerrechtliche Unschuld, weiten sich die rechtsstaatlichen Kollateralschäden mittlerweile zum Flächenbrand aus. Nun ist die terroristische Angstneurose auch bei den Gerichten angekommen. Vergangene Woche entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), die Behörden dürften Telefongespräche von Journalisten mit mutmaßlichen Straftätern zurückverfolgen. Zwei Mitarbeiter des ZDF hatten dagegen Beschwerde eingelegt, das
elegt, dass sie im Rahmen ihrer Recherchen über den Kreditbetrüger Jürgen Schneider überwacht worden waren. Ebenso betroffen war eine Stern-Journalistin, deren Kontaktaufnahme zum mutmaßlichen Terroristen Hans-Joachim Klein ausgewertet worden war. Das Gericht wies die Beschwerden aus zwei Gründen ab: Zum einen sei die Medienfreiheit der Journalisten nicht schutzwürdiger als die aller anderen Bürger, zum anderen sei es Sache des Gesetzgebers, zwischen staatlichem Kontrollinteresse und dem Schutz des Kommunikationsverhaltens abzuwägen. Eine prekäre Argumentation. Denn das allgemeine Schutzniveau ist in Deutschland rechtlich und faktisch niedrig. Zwar bedürfen Anordnungen zur Überwachung des Telefonverkehrs der Gegenzeichnung durch einen sogenannten Ermittlungsrichter. Dieser müsste eigentlich in jedem Einzelfall prüfen, ob das Überwachungsinteresse der Behörden über dem Grundrecht der Bürger steht, dass die Daten ihrer Telefonate nicht aufgezeichnet und ausgewertet werden. Nur: Der Überwachte weiß von den Maßnahmen natürlich nichts und kann also seine Interessen nicht geltend machen, die Argumente für die Überwachung dagegen wirken übermächtig: Möglicherweise ist das Observationsobjekt ja Mörder, Milliardenbetrüger oder - Terrorist. Die Furcht vor dem Terrorismus steht nun auch zwischen den Zeilen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen und greift auf das über, was in den Zeilen steht. Und gegen Furcht vor Terror ist schwer abzuwägen. Zudem ist die Position des Ermittlungsrichters schwach: Er kennt meistens das Verfahren nicht, und auf ein mögliches Zögern reagiert die Staatsanwaltschaft schon einmal mit dem taktischen Angebot, er könne sich durch die Lektüre eines halben Dutzends Leitz-Ordner ja kundig machen. Angesichts der richterlichen Arbeitsbelastung ist die Unterschrift da so gut wie sicher. Noch kürzlich ergab ein Forschungsprojekt der Universität Bielefeld, dass aus diesem und anderen Gründen das »Richtervorbehalt« genannte Verfahren faktisch nicht funktioniert. Ergebnis: Deutschland ist Überwachungsweltmeister. Bis zu 60.000 Telefonate werden pro einzelner Überwachung abgehört. Zwar werden oft nicht die Inhalte der Gespräche aufgezeichnet, sondern die Rahmendaten. Aufgrund der Mobilfunktechnik können so aber Aufenthaltsorte und sogar Bewegungsbilder der Bürger ermittelt werden. Überdies besteht die latente Gefahr, nachrichtendienstliche Erkenntnisse unter dem Deckmantel der derart legalisierten Telefonüberwachung in einen Prozess einführen zu können: Wer vom Bundesnachrichtendienst in den Ardennen entdeckt worden ist, wird von dort vermutlich auch mal telefoniert haben. Dieses ohnehin schon geringe Schutzniveau soll nach dem Willen des BVerfG auch für Journalisten gelten. Gefährdet sind dadurch die Geheimhaltung der Informationsquellen und der Vertrauensschutz. Informanten werden zukünftig jedenfalls eher schweigen, als durch Pressekontakte zu einer allgemeinen Meinungsbildung über brisante Entwicklungen beitragen zu können.Beim zweiten Argument, es sei Sache des Gesetzgebers zwischen den Interessen des Staates und der Bürger auszugleichen, schätzt das Verfassungsgericht die eigene Rolle falsch ein - der Verweis zielt am Kern des Machtproblems vorbei. Zwar ist richterliche Selbstzurückhaltung grundsätzlich zu begrüßen. Wenn es um den Schutz der Grundrechte gegenüber dem Staat geht, ist sie aber ganz und gar unangebracht - zumal in einem parlamentarischen Regierungssystem. Hier kann die vollziehende Gewalt - in diesem Fall die Nachrichtendienste - schon strukturell auf ein Bündnis mit dem Gesetzgeber setzen. Die Lobby der Bürger sind dann die Grundrechte, zu deren Verteidiger im Notfall das Bundesverfassungsgericht werden muss. So aber hat das Gericht die konkrete Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes dem Leviathan überlassen - und zum Fraße vorgeworfen. Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD), die schon in der Folterdebatte besser geschwiegen hätte, begrüßte denn konsequenterweise auch das Urteil zur Journalistenüberwachung.Das strafprozessuale Maß übervoll machte jedoch der Bundesgerichtshof. Kurz nach dem BVerfG-Urteil entschied er, auch zufällig abgehörte Gespräche seien gerichtlich verwertbar. Zufall vor Grundrechte. Wenn es das Ziel der Attentäter vom 11. September 2001 war, die Demokratien westlicher Prägung ins Herz ihres freien und prinzipiell offenen Konzepts zu treffen, kommen sie posthum diesem Ziel immer näher.