der Freitag: Herr Beckenbach, was erwartet ein Erstsemester, wenn man heute Volkswirtschaftslehre zu studieren beginnt?
Frank Beckenbach: Diese Eingangsphase heute ist abschreckend. Viele Studienanfänger haben konkrete berufsbezogene Interessen. Dann werden sie zuerst mit Mathematik konfrontiert, deren Bezug zu wirtschaftlichen Kontexten aber schleierhaft bleibt, Ableitungsregeln und so etwas. Parallel fangen sie an, die Grundveranstaltungen in Mikro- und Makroökonomik sowie Theorie der Wirtschaftspolitik zu besuchen, deren Betrachtungshorizont bemerkenswert beschränkt ist.
Inwiefern beschränkt?
Den Studierenden wird vermittelt, es gäbe in der Volkswirtschaftslehre einen einheitlichen und unangreifbaren Wissenskanon. Das schränkt nicht nur die Möglichkeiten für spätere Phasen des Studiums ein, sondern auch die praktische Problemlösungskompetenz im Beruf.
Dieser einheitliche Kanon fußt auf der Neoklassik. Erklären Sie dem Laien, was es damit auf sich hat.
Die Neoklassik geht davon aus, dass alle Akteure des wirtschaftlichen Geschehens allwissend sind und autonom ihre Ziele zu maximieren versuchen. Die Koordination ihrer Handlungen auf dem Markt führt zu einem nicht verbesserungswürdigen Gleichgewicht, das ist die Markteffizienz. Nur wenn die gestört ist, dann darf die Politik intervenieren. Geld spielt in der Wirtschaft eine untergeordnete Rolle.
Solche Auffassungen prägen heute auch die wirtschaftliche Praxis. Warum also sollte sich ein angehender Ökonom nicht ausgiebig mit ihnen beschäftigen?
Natürlich sollte er sich damit beschäftigen, keine Frage. Doch so voll die Welt von neoklassischer Ökonomik ist, so zahlreich sind die Belege, dass sie fatale Folgen haben kann. Die Finanzkrise ab 2008 ist nur ein Beispiel dafür. Da haben Nobelpreisgekrönte Akademiker hochkomplexe Preisbildungsmodelle für Derivate entwickelt und Praktiker haben sie übernommen. Aber die Modelle beinhalteten viel zu optimistische Annahmen von der Markteffizienz. Effizienzfantasien wie‚ „Sanieren durch Sparen“ beherrschen hierzulande die Deutung der aktuellen Griechenland-Krise. Mit ihrer Entstehung und den Ungleichgewichten in Europa infolge der deutschen Vormachtstellung beschäftigen sich die meisten Ökonomen dagegen nicht.
Wie konnte die Neoklassik eine derartige Hegemonie erlangen?
Das ist nicht ganz geklärt, aber es ist ein erstaunliches Phänomen: An verschiedenen Orten – Frankreich, Deutschland, England – kamen vor Beginn Ende des 19. Jahrhunderts ähnliche neue Konzepte auf. Sie wollten weg von einer objektivistischen Betrachtungsweise der Wirtschaft, wonach man etwa verausgabte Arbeitsmengen zusammenzählte und so den Preis bestimmte. Subjektive Einschätzungen der Akteure sollten jetzt eine Rolle spielen, auf den ersten Blick entstand der Eindruck, es würde jetzt sozialwissenschaftlicher. Aus heutiger Sicht ist das paradox.
Tatsächlich wurden die Wirtschaftswissenschaften naturwissenschaftlicher, dominiert von mathematischen Modellen. Warum?
Weil man sich der Methoden der damaligen Physik bedient hat. Die Ökonomen haben Mechanikbücher gelesen, Hebelgesetze studiert und übertragen, um ihre Art des wirtschaftlichen Räsonierens auf eine mathematische Grundlage zu stellen. In dem Moment, in dem sich das Theoretisieren eigentlich dem Menschen zuwenden wollte, gab es zugleich eine knallharte Formalisierung.
Frank Beckenbach, 64, ist Professor für Umweltökonomie an der Universität Kassel. In einem von der Hans-Böckler-Stiftung finanzierten Projekt erforscht er derzeit den Stand der Pluralität volkswirtschaftlicher Lehre in Deutschland
Foto: Privat
Woher genau kam diese Be-geisterung der Ökonomen für die Mechanik?
Philip Mirowski, ein wichtiger Wissenschaftstheoretiker, sagt, es sei einfach der Neid auf die Physik gewesen. Aber Transfers interessanter Konzepte aus einem Fach in ein anderes sind ja an sich nicht ehrenrührig, sondern normal und im besten Falle produktiv. Aber in den Wirtschaftswissenschaften hat man dann Theorien aus der Schwingungslehre, die in der Konstruktion von Flugzeugflügeln verwendet wurden, hergenommen, um damit mathematisch zu beweisen, dass es das Idealbild vom wirtschaftlichen Gleichgewicht gibt.
Was soll daran problematisch sein?
Die zunehmende Einkapselung der Wirtschaftswissenschaften. Nach dem Zweiten Weltkrieg hieß das Forschungsprogramm „Allgemeine Gleichgewichtstheorie“. Die ersten, noch sehr abstrakten Überlegungen sind zu einem in sich geschlossenen mathematischen Konzept verdichtet worden, dafür hat es reihenweise Nobelpreise gegeben, das Ganze ist eine wissenschaftliche Erfolgsgeschichte geworden. Aber es ging nicht mehr um reale Marktprozesse, sondern um eine selbstreferenzielle wissenschaftliche Struktur. Ihre Anhänger rechtfertigen das so: Wir bauen eine Idealwelt und keiner behauptet, dass sie der Wirklichkeit entspricht, aber die Wirklichkeit soll an ihr gemessen werden.
Sie können Ihre Studierenden doch auf die Abgründe des angeblichen Ideals hinweisen und Alternativen diskutieren.
Oh, keine Sorge, das habe ich auch schon gemacht, als es die aktuelle Diskussion um eine Pluralisierung der VWL noch nicht gab. Aber das kommt einer pädagogischen Mutprobe gleich.
Wieso?
Alle paar Jahre übernehme ich an unserer Uni die Einführungsvorlesung. 90 Prozent der Studierenden hatten andere oder keine Vorstellungen von der Realität des Faches, für das sie sich entschieden haben. Sie schalten schnell in einen dumpfen Durchwurstelmodus: Erst mal konzentrieren sie sich kaum auf die Lehre, sechs Wochen vor den Klausuren fangen sie dann panikartig an, alles auswendig zu lernen. Die empfinden es als Provokation, wenn ich mit zusätzlichen Perspektiven ankomme und die auch noch mit dem herrschenden Kanon vergleichen will: Jetzt muss ich noch was lernen, jetzt kommt da noch was dazu, was soll das denn? Und manche Kollegen sagen: Wie kannst du das machen? Die Einführung ist doch eine jugendfreie Veranstaltung, da reden wir doch noch nicht ernsthaft mit den Studierenden!
Aus den übrigen zehn Prozent der Studierenden rekrutiert sich dann wohl die Pluralismus-Bewegung, die die Aufnahme lauter nicht jugendfreier Alternativen in den Lehrkanon fordert: kritische Verhaltensökonomik, Postkeynesianismus, feministische, marxistische und österreichische Tradition und vieles mehr.
Ja, diese Bewegung hat zu vielen kritischen Gegenveranstaltungen geführt und eine erstaunliche Resonanz in der Öffentlichkeit gefunden. Podien mit berühmten Diskutanten sind öffentlichkeitswirksam und wichtig für die Mobilisierung, aber meine Sorge ist die strategische Verstetigung. Man muss an Stellschrauben wie die Berufungskommissionen für Professuren ran und an die Modulhandbücher. Denn die kommen Verträgen mit der Akkreditierungsagentur gleich und legen in Umrissen die Studieninhalte fest.
Sie haben zwischen 1969 und 1976 an der FU Berlin studiert. Wie stand es denn da um Pluralität und Protest?
Wir hatten sehr dezidiertere Vorstellungen, wie die Alternative aussehen sollte, stark durch Marx geprägt. Paul Samuelsons Einführung in die Volkswirtschaftslehre war das dominante Lehrbuch, wir sind in die Veranstaltungen gegangen und haben es kritisiert. Angesichts der damals überhaupt nicht vorhandenen Diskurskultur endete das aber oft in aufgeputschter Stimmung und manchmal sogar in Polizeieinsätzen. Ich wollte mich dann nicht mehr mit beschränkten Dozenten und veralteten Lehrbüchern verschleißen, also lasen wir in Gruppen alle wichtigen ökonomischen Theorien im Original: Smith, Ricardo, Marx, Marshall, Walras, Sraffa, Keynes. Davon zehre ich noch heute.
Jetzt untersuchen Sie in einem Forschungsprojekt, wie plural die deutsche Volkswirtschaftslehre heute ist. Was lässt sich sagen?
Wir werten die Modulhandbücher aller 50 Bachelorstudiengänge in Deutschland aus, analysieren Lehrmaterialien in den Grundlagenfächern, befragen die Lehrenden und suchen nach ergänzenden Veranstaltungen, etwa zur Geschichte des ökonomischen Denkens. Soweit wir das bisher sehen können, sind die Hinweise auf pluralistische Ansätze relativ bescheiden.
Hat die Pluralismus-Bewegung eine Chance, das zu ändern?
Was es schwierig macht, das ist die Flexibilität der vorherrschenden ökonomischen Programme: Sie leugnen auftauchende Probleme nicht, sondern integrieren sie. Die Entstehung der Umweltökonomik ist ein gutes Beispiel dafür, und mit der Kritik am Gleichgewichtsideal könnte es ähnlich laufen: Dann werden eben Schwankungen in die Theorie eingebaut und der fiktive Kern bleibt erhalten. Aber die Kritik der Studierenden hat durchaus schon Wirkung. Ich treffe gerade immer mehr junge Kollegen, die sehr offen sind, und ältere Professoren, die jetzt ihre Lehrkonzepte überarbeiten.
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