„Die Grünen sind doch auf dem Bio-Auge blind"

Interview Martin Rücker kämpft als neuer Foodwatch-Chef für sauberes Essen und mehr Marktwirtschaft
Ausgabe 30/2017

Die Brunnenstraße in Berlin-Mitte, ein 1908 erbautes Fabrik- und Geschäftsgebäude: Hier, in einem der Hinterhöfe, befindet sich das Büro des Verbraucherschutzvereins Foodwatch, 2002 vom früheren Greenpeace-Geschäftsführer Thilo Bode gegründet. An der Eingangstür hängt noch das Plakat für die Großdemonstration gegen TTIP und CETA im Herbst 2016. Drinnen führt jetzt ein anderer die Geschäfte: Seit April kümmert sich Bode um den Wandel von Foodwatch zu einer europäischen Verbraucherschutzorganisation, sein Nachfolger ist Martin Rücker – früher Journalist, dann Sprecher, jetzt Geschäftsführer von Foodwatch, das seinen Drei-Millionen-Etat fast komplett aus Spenden und Förderbeiträgen bestreitet und damit gegen die Durchsetzung von Profitinteressen zum Nachteil der Verbraucher kämpft.

der Freitag: Herr Rücker, bei mir im Kiez hingen vor einiger Zeit Plakate, auf denen stand: „Die Macht des Konsumenten – nichts als Einbildung!“

Martin Rücker: Da ist was dran. Es wird gern behauptet, Verbraucher könnten mit Einkaufswagen und Portemonnaie abstimmen. So sollte es in einem funktionierenden Markt auch sein: Kunde und Anbieter auf Augenhöhe. Doch auf dem Lebensmittelmarkt ist das nur schöne Theorie.

Das erwähnte Plakat warb für eine Veranstaltung der „Gruppe kommunistische Kritik“. Ein Bündnispartner für Foodwatch?

Na, wir sind sicher keine kommunistische Gruppe, sondern interessanterweise oft die Letzten, die das Fähnlein der Marktwirtschaft in den Wind halten.

Zur Person

Martin Rücker, 37, wurde in Stuttgart geboren und hat an der Fachhochschule Hannover Journalistik studiert. Er arbeitete als freier Journalist, Lokal- und Politikredakteur der Neuen Presse in Hannover und zog schließlich nach Berlin, um als Hauptstadt-Korrespondent für Zeitungen aus ganz Deutschland zu berichten. 2009 wechselte er zu Foodwatch und wurde dort Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Seit April dieses Jahres amtiert er als Geschäftsführer von Foodwatch Deutschland

Die Letzten?

Ja, denn gerade die, die laut für die Marktwirtschaft trommeln, wehren sich gegen alles, was Verzerrungen beseitigen, den Wettbewerb fair machen würde. Wir brauchen aber Regulierung, damit dieser Markt überhaupt einmal funktioniert. Es gibt heute kein Gleichgewicht zwischen Angebots- und Nachfrageseite, allenthalben fehlt es an Transparenz.

Aber wenn ich mir Obst kaufe, dann sehe ich heute doch, woher es kommt.

Wenn Sie aber Erdbeermarmelade kaufen, dann sehen Sie nicht, dass die Früchte darin mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit aus China kommen. Genau das aber wollen viele Verbraucherinnen und Verbraucher wissen, und erst dann könnten sie mit ihrer Kaufentscheidung beeinflussen, wie die Produktion aussieht und wie die globalen Warenströme laufen. Transparenz über Herkunft von Produkten, den Einsatz von Agrargentechnik, klare Angaben zu den Nährwerten, das wäre bitter nötig.

Zucker- oder Fettgehalt finde ich doch heute in diesen Tabellen auf den Verpackungen.

Im Kleingedruckten versteckt und oft sehr unverständlich. Eine Ampel auf der Vorderseite der Verpackungen wäre viel besser: einheitliche Angaben zu Zucker-, Fett- und Salzgehalt pro 100 Gramm. Die Farbe Grün zeigt einen geringen, Gelb einen mittleren und Rot einen hohen Gehalt an.

Der Koalitionsvertrag der amtierenden Bundesregierung sah ja immerhin vor, dass es verpflichtend gekennzeichnet werden muss, wenn gentechnisch verändertes Futter bei der Herstellung von Tierprodukten verwendet wurde.

Daraus ist leider nichts geworden.

Warum nicht?

In diesem Koalitionsvertrag steht einiges, was gar nicht so schlecht ist. Aber für das meiste davon müsste sich die Regierung auf europäischer Ebene starkmachen. Das hat sie nicht ernsthaft getan. Gerade in der Verbraucherpolitik haben politische Entscheidungen der Vergangenheit viel zu häufig wirtschaftlichen Interessen den Vorrang gegeben. Das entfremdet die Menschen nicht nur von der EU, sondern von Politik insgesamt. Das macht demokratiemüde. Mir liegt fern, auf die Politik als System zu schimpfen. Aber sie muss sich viel stärker solchen alltäglichen Fragen der Menschen annehmen, um wieder größere Zustimmung zur Demokratie zu bekommen.

CSU-Verbraucherschutzminister Christian Schmidt attestieren Sie ja durchaus Qualitäten.

Das tue ich?

Er sei ein guter Kreativdirektor einer Bundeswerbeagentur, das haben Sie gesagt.

Ganz Ironie-frei: Herr Schmidt ist ein sympathischer Mann. Er ist sehr freundlich – und sehr nützlich für die Lebensmittelwirtschaft. Weil er die Themen zwar erkennt, sein politisches Handeln aber darauf beschränkt, eine Aufklärungskampagne nach der anderen zu starten und Umfrageresultate in die Kamera zu halten. Etwa, dass das Lieblingsgericht der Deutschen Nudeln sind.

Immerhin begründet Schmidt ein staatliches Tierwohllabel.

Das es den Tierhaltern überlässt, ob sie freiwillig ein bisschen bessere Haltungsbedingungen schaffen! Wenn wir wirklich eine gute Tierhaltung möchten, dann geht das nur mit verbindlichen Regeln für alle in Europa: mit formalen Kriterien zur Ausgestaltung der Ställe, zum Platzbedarf, aber auch zu einem Punkt, der in der Debatte bisher so gut wie gar nicht vorkommt, zur Tiergesundheit. Produkte, die nicht nach diesen Regeln hergestellt werden, dürfen gar nicht mehr auf den Markt kommen, auch nicht von außerhalb der EU. Ohne Außenhandelsschutz geht es nicht.

Oh, Außenhandelsschutz – das ist doch böser Protektionismus.

Wir sind für fairen Freihandel, nicht für Protektionismus. Und wenn wir Babynahrung, die nach in China geltenden Standards produziert wird, nicht auf den hiesigen Markt lassen, dann gilt das ja auch nicht als Protektionismus, sondern als Selbstverständlichkeit. Wenn wir Tiere zur Produktion von Lebensmitteln halten, dann schulden wir ihnen eine tiergerechte Haltung. Und wenn solche Standards dann nur für in Europa ansässige Tierhalter gelten und gleichzeitig Produkte, die zu schlechteren Standards produziert werden, für den Markt zugelassen werden, dann gehen die hiesigen Tierhalter pleite, und keinem einzigen Tier ist geholfen.

Foodwatch hat an vorderster Front gegen TTIP gekämpft, den Vertrag vom Tisch gefegt hat aber erst Donald Trump.

Ich würde nicht sagen, dass TTIP vom Tisch gefegt ist. Totgesagte leben länger. Natürlich haben wir uns gefreut, dass der Vertrag nicht so durchkommen wird, wie er bisher angelegt war. Doch die Freude trübt, dass eine ganze Reihe anderer demokratiepolitisch fragwürdiger Verträge in Arbeit ist, aktuell JEFTA zwischen der EU und Japan. Und wir kämpfen weiter dagegen, dass CETA so kommt wie geplant.

Sie haben zuletzt ein Gutachten vorgelegt, nach dem der Bundesrat CETA noch stoppen kann.

Ja, außerdem steht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu CETA aus. Und wenn Grüne und Linke bei der versprochenen Linie bleiben, dem Vertrag im Bundesrat also nicht zustimmen, dann gibt es dort keine Mehrheit für CETA.

Grüne, Linke – wen würden Sie in Sachen Verbraucherpolitik für die Bundestagswahl empfehlen?

Ich habe die Programme aller relevanten Parteien gelesen und dabei sehr schlechte Laune bekommen. Ich sehe keine Partei, die eine ernsthafte verbraucherpolitische Agenda hat. Keine einzige.

Die Linke will eine eigenständige Verbraucherschutzbehörde. Und sie fordert, dass Einnahmen aus Kartellstrafen Organisationen wie Ihrer zugutekommen.

Einzelne gute Ansätze gibt es in fast allen Parteien. In den Wahlkämpfen spielen sie aber meist keine Rolle, oder sie werden als Erstes auf dem Altar der Koalitionsverhandlungen geopfert.

Die Nährwert-Ampel, das Hygienebarometer für Gaststätten oder die Kennzeichnung für Fleisch und Milch, wie es sie bei Eiern schon gibt – das fordern sowohl Linke wie auch Grüne.

Was fehlt, sind Politiker aus der ersten Reihe, die diese Themen für sich erkennen und sagen: Ich trete an, um das Leben der Leute einfacher zu gestalten, ihnen mehr Rechte zu geben und ihre Sorgen ernst zu nehmen, statt stets wirtschaftspolitischen Interessen das Primat einzuräumen.

Am Ende empören sich aber alle über Ideen wie den Veggieday.

Die Grünen trauen sich nach ihrem selbst verschuldeten Veggieday-Dilemma heute kaum mehr, Piep zu sagen in der Verbraucherpolitik. Aber pauschalen Vorwürfen – Spaßbremse, Verbotspartei, Bevormundungspolitik – muss man selbstbewusst entgegentreten. Es braucht Mut zum Widerspruch! Wahre Bevormunder sind die, die sich als Ritter des freien Marktes aufführen, in Wirklichkeit aber die Dysfunktionalität dieses Marktes bewahren, indem sie verhindern, dass Verbraucher wirklich freie Entscheidungen treffen können. Es geht nicht ums Verbieten, es geht ums Ermöglichen, um die Veränderung der Verhältnisse, um Transparenz. Die Grünen haben aber noch ein anderes Problem.

Welches?

Sie sind auf dem Bio-Auge blind. Es geht ihnen viel zu sehr um eine einseitige Wirtschaftsförderpolitik für die Bio-Branche. Aber Bio ist nicht automatisch die Lösung. Hätten wir bei Fleisch die gleiche Kennzeichnung wie bei Eiern – 0, 1, 2, 3 –, würde das lediglich formale Haltungskriterien kennzeichnen, Bio stünde als bester Standard da.

Ja und? Stimmt doch.

Nein, nicht jeder Bio-Betrieb ist wie Bullerbü. Im Schnitt stammt mindestens jedes vierte Tierprodukt von einem Tier, das an vermeidbaren haltungsbedingten Krankheiten leiden musste – da nehmen sich konventionell und bio, große und kleine Betriebe nichts. Gerade bei der Tiergesundheit geht es um das Management, wie gut etwa die Mitarbeiter geschult sind, um Krankheiten zu erkennen und Tiere aus der Herde zu nehmen. Wir sollten also eher schauen: Wer schafft, dass nicht 30, 40 Prozent der Schweine eine Lungenentzündung durchmachen müssen, bevor sie geschlachtet werden, oder dass nicht Kühe mit entzündeten Eutern Milch geben müssen? Was die Besten können, sollten wir dann sukzessive als Standard für alle definieren, ob bio oder nicht.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

Sebastian Puschner

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