Es hätte alles so schön behaglich weitergehen können für die Vertreterinnen und Freunde der Großen Koalition. Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz übernimmt mit Klara Geywitz die Spitze der SPD, bindet beim Bundesparteitag am kommenden Wochenende in Berlin mit Juso-Chef Kevin Kühnert einen GroKo-Kritiker in den Vorstand ein, der dann die im GroKo-Koalitionsvertrag vorgesehene Revision bisherigen Regierungszeit kritisch begleitet, am Ende aber geht alles weiter wie gehabt – 2021, das Jahr der turnusmäßig nächsten Bundestagswahl, ist ja noch ach so fern. Und Olaf Scholz kann sich bis dahin weiter als Macher einer Bundesregierung mit sozialdemokratischer Handschrift in Szene zu setzen versuchen, um dann die Kanzlerkandidatur zu übernehmen.
Eigentlich gegen die GroKo
Doch es geht nicht so weiter. Zumindest nicht behaglich. Das Establishment der SPD hat einen kräftigen Dämpfer versetzt bekommen. Trotz intensiver Pro-Scholz-Kampagne fast aller von Rang und Namen in der SPD haben der Vizekanzler und seine Brandenburger Partnerin Geywitz verloren. Nur 98.246 Mitglieder stimmten für sie. 114.995 dagegen für Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Für eine Bundestagsabgeordnete, die insbesondere von den Jusos dafür gefeiert worden ist, gegen die GroKo und etwa deren Asylrechtsverschärfungen gestimmt zu haben. Für einen Finanzpolitiker, der laut gegen die Schwarze Null und für massive Investitionen trommelt. Für ein Duo, das eigentlich raus will aus dem Bündnis mit der Union. Eigentlich.
Ob es so kommt, ist alles andere als gewiss. In der Bundestagsfraktion und in Kabinettsgefilden rumorte es zuletzt gewaltig: Da wollen uns welche unsere schöne Regierungspolitik kaputtmachen! Reden all die Erfolge wie die Grundrente schlecht! Riskieren baldige Neuwahlen und somit Mandate, Ministerposten! Oder sorgen bald schon für eine CDU-Minderheitsregierung unter Angela Merkel, die sich dann im Lichte der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2020 für die Bundestagswahlen 2021 empfehlen kann. Der Scholz-Vertraute Wolfgang Schmidt skizzierte schon das neue Kabinett Merkels: „Frau Kramp-Karrenbauer dürfte Vizekanzlerin werden, Herr Spahn Finanzminister, Herr Altmaier Außenminister – und sie wird vermutlich zusehen, dass die neu zu benennenden MinisterInnen und Parlamentarischen StaatssekretärInnen eine Verjüngung und Erneuerung der CDU/CSU symbolisieren.“
Genau diese Art von taktischem Denken hat in der SPD über viele Jahre hinweg alle Versuche einer wirklich inhaltlichen Neuaufstellung übertüncht. Vorsitzende kamen und gingen, Erneuerungs-Versprechen folgte auf Erneuerungs-Versprechen – und was blieb? Die GroKo. Und die Verluste an Wahltagen.
Das vielleicht Erstaunlichste am Sieg von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans ist, dass er zustande kam, obwohl letzterer in den Raum stellte, dass die Partei demnächst ohne Kandidaten für und somit Anspruch auf das Kanzleramt antritt. Dieser Gedanke könnte zwar nicht enger an der Realität angelehnt sein, rührt aber an alten Selbstgewissheiten vieler Sozialdemokraten. Insofern ist das Votum jetzt Ausdruck einer beachtlichen Entwicklung in der Partei, seit diese sich im März 2018 deutlich für den Eintritt in eine neuerliche Große Koalition entschieden hat. Die Mehrheit glaubt nicht mehr daran, was die Oberen verkünden: Dass eigentlich schon alles auf gutem Wege sei.
Zwei Unverdächtige
Dieser Novembertag kann der Anfang vom Ende der „Mit-uns-wird-es-nur-langsam-schlimmer“-Sozialdemokratie sein. Die Chance dazu bieten zwei Vorsitzende, die völlig unverdächtig sind, den alten Führungscliquen anzugehören, die sich mit Ideen für eine progressive Digitalisierung (Esken) und dem entschlossenen Kampf gegen Steuerhinterziehung (Walter-Borjans) empfohlen haben.
Und übrigens nicht mit dem Versprechen auf einen schnellstmöglichen Rückzug aus der GroKo. Sie wissen, dass eine Neuausrichtung der SPD in den Fesseln dieses Bündnisses nicht möglich ist. Aber sie wissen auch, dass der Mut zu den daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen bei weitem noch nicht alle Sozialdemokrat*innen erfasst hat. 53,06 Prozent für Walter-Borjans/Esken, 45,33 Prozent für Scholz/Geywitz: das ist sehr viel deutlicher als zu erwarten war, aber immer noch knapp.
Die Beharrungskräfte derer, die keine neue SPD wollen, sind groß und speisen sich daraus, die Partei jahrelang ungehindert an den Abgrund geführt zu haben. In ihrer Hand liegt es, nun Spaltung, Verwerfungen und Unversöhnlichkeiten zu vermeiden. Ob den Anhängern Olaf Scholz' diese Größe zuzutrauen ist? Mögen siegreiche wie unterlegene Genossinnen und Genossen an diesem Samstag noch so unisono „Geschlossenheit“ beschwören, mag Saskia Esken „Wir sind alle Sozialdemokraten“ rufen Olaf Scholz die Spitze in spe zu „unterstützen“versprechen, am ehrlichsten waren der Schrecken im Gesicht Klara Geywitz‘ und ihre Worte: „Für die SPD ist das jetzt natürlich eine schwierige Situation.“
Eine Woche ist es hin bis zum Bundesparteitag der SPD in Berlin, bei dem die Delegierten Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken zum neuen Spitzen-Duo wählen, somit das Votum der Basis umsetzen und über die Zukunft der GroKo entscheiden sollen. In einer Woche kann viel passieren. Es kann die erste Woche eines langen Weges sein, den die SPD vor sich hat, will sie sich wirklich als Vertretung der Vielen, nicht der Wenigen neu erfinden.
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