Camilo Cienfuegos, ein Revolutionsheld Kubas, war der Namensgeber, als 2006 eine Gruppe junger Menschen aus Deutschland erstmals aufbrach, um die Revolution in Venezuela zu unterstützen. Hugo Chávez, 1999 erstmals zum Präsidenten gewählt, war Sinnbild für linken Aufbruch – eben den galt es mit freiwilligem Engagement zu unterstützen.
Der „Brigade Camilo Cienfuegos“ folgten acht weitere Brigaden nach Venezuela und die Gründung des Vereins „Interbrigadas“ mit Sitz in Berlin-Wedding. Mitgründer Jonas Holldack hat von 2007 an die meiste Zeit in Venezuela gelebt und mit den Brigaden Fabrikbesetzer, landwirtschaftliche Kooperativen und andere Initiativen unterstützt. Heute verfolgt er von Berlin aus, wie der Druck auf Hugo Chávez’ Nachfolger Nicolás Maduro steigt.
der Freitag: Herr Holldack, wie informieren Sie sich über das, was in Venezuela gerade passiert?
Jonas Holldack: Sehr viel über Chats und Telefonate mit Leuten, mit denen ich vor Ort zusammengearbeitet habe. Aber auch über Blogs von Privatpersonen und Kollektiven, internationale und venezolanische Medien. Bei letzteren gibt es zwei Blöcke, viele Zeitungen sind in oppositioneller Hand, etliche andere Medien wie TV-Sender stehen wiederum der Regierung nahe, was vor fünf, sechs Jahren noch anders war. Daraus lässt sich gut ein Querschnitt bilden.
Was geht Ihrem Eindruck nach denn in Venezuela vor sich?
Das Gros der Menschen, mit denen ich zuletzt gesprochen habe, scheint in einer Art angespannter Ruhe zu sein. Sie sagen, dass auf der Straße, im Alltag nicht viel von der politischen Situation zu merken sei, viele gehen normal zur Arbeit. Auch zwischen den verschiedenen Gruppen von Demonstranten und mit der Polizei sind größere Eskalationen bisher ausgeblieben. Aber klar, es gibt eine große Unsicherheit, was kommt.
Als Sie erstmals venezolanischen Boden betreten haben, war Angst wohl kaum die vorherrschende Stimmmung – wann war das?
Ende 2007, ich sprach noch nicht viel Spanisch, erlebte aber eine extreme Aufbruchsstimmung. Die meisten Menschen waren stark politisiert, wollten den Alltag und ihr Leben ändern. Ich war mit einem Projekt unseres Vereins gekommen, arbeitete in verschiedenen „barrios“ – ständig waren die kommunalen Räte, die „consejos comunales“, dort mit der Planung von Projekten zur Verbesserung der Infrastruktur beschäftigt, dem Aufbau von Ärztestationen etwa. Es gab einen starken Fortschritts- und Entwicklungsgedanken, im positiven Sinne.
Wie ist Ihr Verein Interbrigadas überhaupt entstanden?
Wir waren ein Kreis von Freunden, die gemeinsam ihr Abitur gemacht haben und politisch sehr interessiert waren, auch Veranstaltungen an unserer Schule organisierten. Wir hatten eine Doku über den Putsch in Venezuela 2002 gesehen, da beschlossen zwei von uns, sich das mit eigenen Augen anzusehen. Vor Ort hieß es dann oft: Ihr seid Europäer, ihr könnt Englischkurse geben, ihr könnt uns unterstützen. Als die zwei zurück waren, kam die Idee auf, diesen Prozess in Venezuela solidarisch zu begleiten und einen Verein zu gründen, um politische Austauscharbeit zu betreiben.
Hieß es da hierzulande nicht oft, na ja, ein paar abenteuerlustige deutsche Linke, die jetzt in Lateinamerika Revolution spielen?
Eher tauchte die Frage auf, warum wir in Venezuela und nicht in Deutschland politisch arbeiten. Für uns war entscheidend, dass es in Venezuela darum ging, für und nicht gegen etwas zu kämpfen. In Europa dreht sich politische Arbeit aus unserer Sicht meist um die Abschaffung oder die Erhaltung von Dingen, seltener um gesamtgesellschaftliche Kämpfe. Venezuela war in dem Moment das einzige Land, das sich seit der Proklamation des „Endes der Geschichte“ aufgeschwungen hatte, den Begriff des Sozialismus neu zu beleben und zu sagen: eine andere Welt- und Wirtschaftsordnung ist möglich.

Foto: Yuri Cortez/AFP/Getty Images
Was ist schiefgelaufen?
Erst einmal ist es ja unglaublich gut gelaufen. Die Bolivarische Revolution baute auf einem solch riesigen Ressourcenreichtum auf wie kaum je eine andere Revolution. Man konnte zehn Jahre lang mit vollen Händen Geld ausgeben und eine progressive Sozialpolitik betreiben. Aber das Erdöl ist, wie man in Venezuela selbst sagt, Segen und Fluch zugleich. Als Chávez an die Macht kam, die OPEC wieder zu einem starken Block der erdölproduzierenden Länder zusammenschweißte, der Ölpreis nach oben schnellte – da gab es schlicht nicht die Notwendigkeit, nach anderen Einnahmequellen zu suchen oder ausreichend Geld beiseitezulegen; man hat stattdessen angefangen, gewisse Importe zu subventionieren und damit zum Beispiel die eh sehr kleinteilige heimische Landwirtschaft runtergewirtschaftet. Außerdem gab es durch die immensen Öl-Einnahmen große Korrpuptionsanreize.
Ist es naiv von mir, von einer linken Revolution zu erwarten, dass sie sich nicht korrumpieren lässt?
Auf jeden Fall. Denn Korruption hat nichts damit zu tun, ob ein Mensch moralisch höher- oder minderwertig ist, sondern damit, wie weitreichend staatliche Strukturen in einem Land sind. Ohne die Angst davor, gefeuert zu werden, würde wohl auch ein deutscher Polizist eher mal 20 Euro nehmen, als einen Strafzettel zu schreiben. Die Reichweite des venezolanischen Staates ist seit Beginn der Demokratie 1958 sehr gering – in selbst angelegten Vierteln vielerorts gibt es keine Straßennamen und Hausnummern, und du weißt als Staat nicht, wo der oder die wohnt. Unter anderem deshalb gab es dann ja auch riesige Bauprogramme – um staatliche Strukturen zu schaffen und auszubauen. Aber vor allem innerhalb der Institutionen gab und gibt es mangelnde Konrollinstanzen, die Korruption Tür und Tor öffnen. Dies ist aber nicht erst im Chávismus entstanden, sondern historisch gewachsen. Die Orientierung auf Importe verschlimmerte das noch.
Ihre Brigaden haben mit vielen Basisinitiativen kooperiert, die nicht von oben gesteuert wurden, sondern selbst Wohnungen bauen oder Landwirtschaft betreiben wollten, basisdemokratisch.
Ja, es gab ganz viele Kooperativen, die auch die Abhängigkeit von ausländischen Importen durchbrechen wollten, und das wurde von Seiten des Staates durchaus unterstützt. Aber insgesamt hat das meist nur einen sehr kleinen Bereich abgedeckt, man konnte dann etwa einen Teil des Dorfes mit Fisch versorgen. An anderen Orten haben besetzte Fabriken angefangen, direkt mit ihrer Gemeinde zusammenzuarbeiten und zum Beispiel Schulen wieder aufzubauen.
Warum blieb das so begrenzt?
Eine Rolle spielt, dass Großprojekte vorzeigbarer sind, sich medial besser verkaufen lassen – und es gab in Venezuela ja fast jedes Jahr Wahlen. Oft wurden Verträge mit Russland oder China geschlossen, die dann eigene Arbeiter und Maschinen mitgebracht haben, um Wohnungen zu bauen. Und man darf nicht vergessen, dass Venezuela als „Hinterhof der USA“ seit Langem einem sehr konsumistischen Gedankengut ausgesetzt ist.
Zur Person
Jonas Holldack, 30, studiert Spanische Philologie sowie Lateinamerika-Studien an der FU Berlin. Er verbrachte seit 2007 mehr Zeit in Venezuela als in Deutschland, lebte zwischen 2011 und 2017 fest in Caracas und schrieb unter anderem für amerika21.de
Was heißt das?
Alles, was über den TV-Bildschirm flimmert, war durch den nordamerikanischen Traum geprägt: Telenovelas, Schönheitswahlen, Werbung. Chávez hat gesagt, dass es darum gehe, sich zu entwickeln, aber nicht dem Entwicklungsmodell der USA zu folgen. Nichtsdestotrotz hat die Regierung dann mitunter das Gegenteil getan – und zum Beispiel Flachbildschirme importiert. Sie hat also kaum Wege gefunden, die Konsumorientierung zu durchbrechen.
Wann und wie kam die Wende für den Chávismus?
Die Hochphase des chávistischen Projekts war die, in der man Grundbedürfnisse der Bevölkerung befriedigt hat – Versorgung mit Lebensmitteln, medizinischen Gütern, Abwasser, Müllabfuhr und Strom, aber auch Identitätspolitik: Menschen haben überhaupt zum ersten Mal einen Ausweis ausgestellt bekommen, konnten wählen, das hat einen Teil der Wählerschaft des Chávismus ausgemacht. Solange man diese Grundbedürfnisse befriedigen konnte, oder angefangen hat zu befriedigen, lief der bolivarische Prozess unglaublich gut. Die Armutsrate fiel zwischen 1998 und 2010 von 55 auf 23 Prozent. Nachdem man diesen Punkt abgehakt hatte, kamen die weiteren Bedürfnisse, die viel schwieriger zu befriedigen sind. Hier ist unserer Meinung nach ein Wendepunkt eingetreten, der wenig später mit dem Tod Chávez’ und dann noch mit dem Verfall der Erdölpreise zusammenkam. Von Bruch würde ich in Bezug auf die Unterstützung der Bevölkerung für die Regierung sprechen, aber nicht in Bezug auf das chávistische Projekt.
Wie meinen Sie das?
Ab 2010 konnte die Opposition Stimmenzuwachse verzeichnen, während die Regierung relativ stagnierte. Die Bolivarische Revolution ist ein Regierungsprojekt, wird aber gleichzeitig von vielen politischen Gruppen, Debatten und politisch Organisierten getragen. Es ist wichtig diese Zweigleisigkeit darzustellen, da linke Politik in Venezuela nicht nur von oben herab gemacht wurde.
Chávez starb 2013, aus der Zeit stammen die letzten Venezuela-Stellungnahmen Ihres Vereins auf der Internetseite, die letzte Brigade dorthin gab es 2014.
Ja, es gab natürlich einen gewissen Abnabelungsprozess. Lange Zeit konnte man Venezuela und viele Errungenschaften sehr gut verteidigen, viele Vorwürfe – autoritäre Strukturen, Gleichschaltung der Medien – waren unbegründet. Aber mit Chávez’ Tod änderte sich etwas schlagartig – er hatte ja 14 Jahre lang so gut wie jede Wahl deutlich gewonnen. Als Nicolás Maduro übernahm, war der Druck auf ihn immens. Andere hatten gehofft, Chávez’ Nachfolger zu werden; die Opposition sah erstmals seit Langem eine Chance. Es ging bald kaum mehr um progressive Projekte und Gesetze, sondern vor allem darum, die Macht zu halten.

Foto: Yuri Cortez/AFP/Getty Images
Wie enttäuscht sind Sie heute?
Natürlich stellt sich die Frage, was diese zehn Jahre Aufbruch wert waren. Es fällt schwer, das zu verdauen – auch, weil politische Basis-Aktivität eingeschlafen ist. Dafür braucht man Zeit. Wer fünf oder sechs Stunden am Tag Schlange stehen muss, um gewisse Produkte zu kaufen, hat die nicht. Wir haben viel mit besetzten Fabriken zusammengearbeitet – aber wenn die Primärmaterialien fehlen, um zu produzieren, dann müssen die Besetzer außerhalb der Fabrik arbeiten und können diese Zeit nicht mehr dem politischen Kampf widmen.
Inzwischen gehen Ihre Brigaden vor allem nach Andalusien.
Ja, es geht um die Ausbeutung der migrantischen ArbeiterInnen, die dort in diesem riesigen Plastikmeer das Obst und Gemüse ernten, das wir hier im Supermarkt kaufen. Viele in Andalusien arbeiten unter Bedingungen, die noch schlechter sind als in Venezuela.
Jetzt kämpfen Sie also „gegen“, nicht mehr dezidiert für etwas.
Na ja, der zentrale Anspruch ist derselbe wie in Venezuela: viele Menschen zu politisieren, gerechte Arbeitsbedingungen aufzubauen, Handelsketten zu hinterfragen. Unsere andalusische Partnerorganisation haben wir in Venezuela kennengelernt.
Was denken Sie, was wird nun in Venezuela geschehen?
Alles ist möglich. Juan Guaidó, der sich zum Präsidenten erklärt hat, verfügte bisher nur über Unterstützung aus dem Ausland und von seinen Anhängern vor Ort, nicht aber über innerstaatliche Macht. Es kann sein, dass sich ein Teil des Militärs auf seine Seite schlägt, dann kann es zu einem bewaffneten Konflikt kommen.
Was wünschen Sie dem Land?
Erst einmal ist jede Einmischung von außen abzulehnen, da sie die Souveränität des Landes verletzt. Erkennt etwa Deutschland Guaidó an, ist das nicht mit internationalem Recht vereinbar und heizt den Konflikt an. Ideal wäre ein politischer Dialog zwischen beiden Seiten in Venezuela, denn die Krise ist so groß, dass sie keine Seite alleine wird lösen können. Ich meine eine Stimmung wahrzunehmen wie in Argentinien um die Jahrtausendwende: viele fühlen sich keinem Lager mehr richtig zugehörig, alle Politiker sollen zur Hölle fahren.
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