Lange ist es nicht her, da galt Jens Spahn als realistischer Kandidat auf die Kanzlerkandidatur der Union für den Herbst. Erinnern Sie sich nicht? Im Dezember noch, kurz vor dem CDU-Parteitag, war heiß gehandelt worden, dass das Tandem Laschet-Spahn die Plätze tauscht. Das war eine Option, die öffentlich als durch und durch nachvollziehbar galt, und tatsächlich schickten damals Spitzenleute der Partei den in allen Lagern angesehenen „Nestor“ vor: Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier sondierte bei NRW-Landesvater Armin Laschet, ob der nicht für seinen 40-jährigen, agilen und immer populäreren Unterstützer zurück ins zweite Glied treten würde. Laschet, seit Februar 60 Jahre alt, lehnte ab. Jetzt ist er Parteichef, a
, aussichtsreichster Kanzlerkandidat im Feld – und Spahn das Gesicht des Scheitern des Staates in der Corona-Krise. Da haben wir noch nicht einmal über Markus Söder, 54, gesprochen.Und dann kam CoronaDie Zeit zwischen Angela Merkels erstem Besuch bei Donald Trump im März 2017 und dem legendären Showdown Laschet versus Söder im April 2021 nimmt Robin Alexander in seinem neuen Buch in den Fokus. Da kein anderer Journalist das Innenleben der CDU so gut kennt wie der von allen Ebenen mit Sitzungs-Live-SMS und Hintergrundinfos gefütterte Vize-Chefredakteur der Welt, ist diese folgenreiche Zeit nirgends so genau nachzulesen wie in Machtverfall. Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik. Das war nach seinem Buch Die Getriebenen: Merkel und die Flüchtlingspolitik über das Jahr 2015 nicht anders zu erwarten.War Die Getriebenen dezidiert als Buch über den Verlauf einer Krise angelegt, so bricht die Krise dieses Mal über den eigentlichen Beobachtungsgegenstand herein: Als Annegret Kramp-Karrenbauer am 1o. Februar 2020 infolge der Wahl Thomas Kemmerichs zum Ministerpräsidenten Thüringens ihren Rückzug ankündigt und das Rennen um Merkels Nachfolge neu eröffnet, geht es mit Corona erst so richtig los in Deutschland. In Wuhan ist die Kanzlerin da schon längst gewesen.Peking hat Merkel am 7. September 2019 gerade verlassen, als sie in der Hauptstadt der Provinz Hubei landet. Im am häufigsten bereisten Land ihrer Amtsperiode unternimmt sie stets einen Abstecher an irgendeinen Ort abseits des Bekannten. So besucht Merkel das größte Krankenhaus Wuhans und eröffnet dort ein Werk des deutschen Autozulieferers Webasto, bei dem im Januar die ersten Corona-Fälle in Deutschland identifiziert werden. Alexander unterlässt es nicht, auf heute bekannte Erkenntnisse hinzuweisen, die nahelegen, dass Sars-CoV-2 bereits damals zirkulierte: Satellitenbilder überdurchschnittlich gefüllter Krankenhausparkplätze, auch in Wuhan, wo sich zugleich im Rückblick eine gesteigerte Zahl von Internet-Suchanfragen nach „Husten“ und „Durchfall“ feststellen lässt. Der Autor nährt hier keine Verschwörungsmythen; er brilliert vielmehr als Chronist der unglaublich dichten Abfolge politischer Ereignisse, die der gegenwärtigen Epoche zu eigen ist und bei der zuweilen der Zufall Regie führt. In diesem Fall hat die Kanzlerin wohl schlicht „Glück gehabt“ hat, von einer sehr frühen Ansteckung verschont zu bleiben.Es ist diese Chronisten-Finesse, die das Buch so lesenswert macht, in Bezug auf das Ringen der Union um ihre Zukunft wie auf die deutsche Corona-Politik. Ereignisse, die heute noch die Schlagzeilen bestimmen und morgen schon wieder vergessen sind, ordnet Alexander zu einer spannenden wie zügig lesbaren Geschichte vom Gang der Dinge und vom Charakter ihrer Protagonisten. Friedrich Merz etwa wäre vielleicht schon längst Wirtschaftsminister – Kramp-Karrenbauer jedenfalls wollte ihn Merkel, ohne jede Rücksicht auf einen ihrer wenigen Freunde im politischen Betrieb (Peter Altmaier), im Namen der innerparteilichen Versöhnung und im Bund mit all ihren Stellvertretern im Präsidium aufzwingen. Doch der eitle Merz lehnte ab, nur seine Feindin Merkel selbst könne ihm dies anbieten.Merkel – für Robin Alexander „kleinster gemeinsamer Nenner einer entpolitisierten, risikoscheuen Gesellschaft“ – tat dies nie, und Merz war ihr nie gewachsen, aber auch nicht Kramp-Karrenbauer und alle in ihrer Gunst Stehenden, über die Merkel gern sagt: „Ich bringe Leute in Position, laufen müssen sie selber.“Gelaufen ist Markus Söder – und dass er Haken schlagen kann, verdeutlicht nicht nur die Genese der Schulschließungen im März 2020: ein trickreiches Spiel des bayrischen Ministerpräsidenten mit Spahn und Kanzleramtsminister Helge Braun in einem den Ländern obliegenden Bereich.Söder und die FrauenDass Söder beinahe Kandidat geworden wäre, hat viel mit Frauen zu tun: sie zurück zur CSU zu holen, war die 2019 ausgegebene Parole. Öko-Macher-Image, nachdenklicher Blick mit verstrubbelter Frisur bei Instagram, das ging auf – so richtig aber erst mit Beginn der Corona-Krise; eigens für das Buch vorgenommene demoskopische Analysen belegen es: Angst war in der Pandemie ein unter Frauen stärker verbreitetes Gefühl als unter Männern. Söder als entschlossener Beschützer, der sich zugleich ergeben Merkel und damit einer Frau unterordnet, die er einst bekämpft hat: Diese Strategie bescherte ihm und der Union eine derart sprunghaft gestiegene Popularität, dass Alexander es „eine historische Anomalie“ nennt.Dass Söder nicht Kandidat geworden ist, hat dagegen viel mit einem Mann zu tun: Wolfgang Schäuble war es, der bei einer nächtlichen Runde im Bundestag das Ende des Duells besiegelte – weil er Söder nicht ver-, ihm aber zutraute, die CDU in den Abgrund zu reißen. Armin Laschet wurde Kanzlerkandidat, damit es nicht Söder wird, wie er Parteichef geworden war, damit es nicht Merz wird. Das ist eigentlich eine hinreichend schwache Ausgangsposition, um die Grünen und alle anderen endlich ihre Ehrfurcht vor der CDU verlieren zu lassen.Placeholder infobox-1