Die ersten Köfte-Bällchen auf dem Grill sind schon fertig, das Tablett mit dem Sekt wird auf den Dachgarten getragen und die Sozialdemokratie darf mitfeiern. Berlin-Kreuzberg, 11. Stock, ein früher Sommerabend, die Sonne knallt und 50 Menschen lächeln selig. „Es freut uns sehr, dass alle Parteien an einem Strang gezogen haben“, sagt die Frau vom Mieterrat des Neuen Kreuzberger Zentrums, „denn das zeigt, was erreicht werden kann, wenn alle zusammenarbeiten.“ Die Balkonparty ist ein explizites Dankeschön der Mieter an die Politik, die Gäste stoßen jetzt an – auf die vielen Häuser, die es noch zu kommunalisieren gelte.
Cansel Kiziltepe, 41, SPD-Abgeordnete aus dem Bezirk und seit bald vier Jahren im Bundestag, lächelt besonders selig. 295 Wohnungen und 90 Geschäfte, die sich hier seit den 1970ern im Halbrund um den Platz am Kottbusser Tor gruppieren: Sie gehen nicht an einen stadtbekannten Investor, wonach es bis zuletzt ausgesehen hatte – sondern an die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Gewobag. „Mir fällt ein Stein vom Herzen“, sagt Kiziltepe. Mehr als 50 Millionen zahlt die Gewobag.
„Alle“ Parteien, die da an einem Strang gezogen haben, das sind die drei, die seit etwas mehr als einem halben Jahr die Hauptstadt regieren und die auf der Party vertreten sind: SPD, Linke, Grüne. Klar, nachdem feststand, dass das Neue Kreuzberger Zentrum kommunalisiert wird, hat das jeder der drei öffentlichkeitswirksam als seinen eigenen Erfolg verbucht.
Nur: Wen kümmert das? Die Mieter am Kotti nicht. Sie fürchten hier jetzt nicht mehr Mietsteigerungen und Verdrängung. Sondern höchstens, dass sie die Gewobag nicht von einem Mieter-Selbstverwaltungsmodell überzeugen können.
Vom Dachbalkon aus sind viele Kräne zu sehen und der Regierungssitz, das Rote Rathaus. Die Reichstagskuppel dagegen ist verdeckt, was passt, denn: Dass Menschen im ganzen Land bald einer rot-rot-grünen Regierung für die Kommunalisierung von Wohnraum, eine ausreichende Rente, die Stärkung ihrer Verhandlungsmacht gegenüber Arbeitgebern oder die Ehe für alle danken, das ist spätestens seit Anfang Mai so unwahrscheinlich wie eh und je. „Es sieht schlecht aus“, sagt Cansel Kiziltepe.
Nach dem damaligen Sieg der CDU in Schleswig-Holstein erteilte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz vor Wirtschaftsvertretern in Berlin der Linken eine Abfuhr. Der FDP hatte er sich schon zuvor angebiedert. Zur Erinnerung: „Zeit für soziale Gerechtigkeit“, so lautet der SPD-Leitspruch für die Bundestagswahl am 24. September. Von der FDP war niemand da am Kottbusser Tor.
Olaf Scholz lächelt
Zwei U-Bahn-Stationen weiter und vier Tage später knallt die Sonne auch durch das Glasdach des Willy-Brandt-Hauses; ihre Strahlen erfassen aber nur Olaf Scholz – die beiden neben ihm stehen im Schatten, Martin Schulz und Thorsten Schäfer-Gümbel. Das ist reiner Zufall und passt doch auch wieder. Denn das Steuerkonzept, zu dessen Vorstellung die drei SPD-Parteivorstände an diesem Mittag geladen haben, ist so, wie es Scholz nun zufrieden lächelnd gleich mehrmals nennt: „moderat“.
Als ein Journalist nach dem fragt, was in diesen Tagen besonders naheliegt – dem Spitzensteuersatz von 53 Prozent unter Helmut Kohl –, da antwortet Scholz, dessen Fans vor allem im rechten Flügel der SPD zu Hause sind: Dieser Rekurs auf die Zeit vor Gerhard Schröders Kanzlerschaft bestätige ja nur, dass das neue Konzept „maßvoll und moderat“ ausfalle.
Die SPD will einen Spitzensteuersatz von 45 statt wie bisher 42 Prozent, anfallen soll er, im Falle eines Singles, auf jeden Euro, der rund 87.000 Euro brutto im Jahr übersteigt. Bisher liegt diese Grenze bei etwa 64.000 Euro. Wer auf mehr als 250.000 Euro zu versteuerndes Einkommen kommt, soll künftig drei Prozent mehr an Reichensteuer bezahlen, also 48 statt 45 Prozent. „Wir versprechen nichts, was wir nicht halten können“, sagt Martin Schulz noch, als ihn Olaf Scholz einmal zu Wort kommen lässt.
Es dauert nicht lange an diesem Montag, bis Linken-Parteichef Bernd Riexinger eine Pressemitteilung verschickt: „Die SPD hat nicht den Mut, Reichen und Vermögenden stärker in die Taschen zu greifen“, steht da, und „zu defensiv“ und „Steuergerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit sehen anders aus“. Damit sind Riexinger und die Linke schneller als viele andere, die sogleich auf die SPD-Pläne eindreschen. Und die dabei so ganz anders klingen als die Linke.
Die CSU-Bundestagsabgeordnete Gerda Hasselfeldt erklärt, die Sozialdemokraten verlangten „wieder Steuererhöhungen für die Leistungsträger der Mitte“ und setzten damit „auf Neid“. Der CDU-Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Jens Spahn, spricht von „Augenwischerei“. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Eric Schweitzer, fürchtet, die Pläne würden Investitionen und Innovationen hemmen. Und der Chef des Bunds der Steuerzahler meint es nicht als Lob, wenn er sagt: „Es handelt sich um eine Umverteilung von oben nach unten.“
Als Linken-Politiker Oskar Lafontaine am Montagabend im Maxim-Gorki-Theater in Berlin-Mitte sitzt, beim radioeins und Freitag Salon, und von Jakob Augstein nach dem SPD-Steuerkonzept gefragt wird, da sagt er: „Das ist ein Schrittchen in die richtige Richtung.“ Immerhin.
Lafontaines Partei will Einkommen ab knapp 261.000 Euro mit 60 Prozent besteuern und die ab einer Million mit 75 Prozent. Sie plant eine Vermögenssteuer von fünf Prozent auf Vermögen, die eine Million Euro übersteigen.
Das ist der Unterschied zur SPD, auf den sich Riexinger bezieht. Er hätte sich auch still freuen können, dass die SPD-Defensive Raum lässt für die Linken-Offensive. Oder er hätte sich auf das Gemeinsame beziehen können: Abschaffung der Abgeltungssteuer, welche die Bezieher leistungsloser Kapitaleinkommen mit 25 Prozent billigst davonkommen lässt. Verwendung der Haushaltsüberschüsse für Investitionen in Wohnraum, Bildung und Energieeffizienz. Bekämpfung von Steuerhinterziehung.
Wagenknechts Worte
Auf die Entlastung der Bezieher niedriger Einkommen, die die SPD unter anderem damit erreichen will, dass sie den ohnehin qua Verfassung bald fälligen Solidaritätszuschlag zuerst für untere und mittlere Einkommen streicht, die Kita-Betreuung überall kostenlos gestaltet und für die, welche weniger als 1.300 Euro im Monat verdienen, die Sozialabgaben teils aus staatlichen Mitteln bezahlt. Doch der kurze Frühling rot-rot-grüner Hoffnungen für den Bund, er ist vorbei.
„Einen deutschen Jeremy Corbyn würde die Linke sofort zum Kanzler wählen“, hat Fraktionschefin Sahra Wagenknecht beim Linken-Parteitag in Hannover gesagt. Und weiter: „Es steht nur leider nicht in unserer Macht, aus Martin Schulz einen Jeremy Corbyn zu machen.“
Als sich um Schulz von Januar an ein Hauch jener Stimmung verbreitete, mit der Corbyn seine Labour-Partei am 8. Juni zu den größten Stimmenzuwächsen seit 1945 geführt hat, da haben sie sich auf dem linken Flügel der SPD am meisten gewundert, so erzählen es SPD-Linke immer wieder. Corbyn hat im Gegensatz zu Schulz lange Jahre der innerparteilichen Opposition hinter sich, er hat sich immer gegen den Rechtsruck von Labour gewendet. Schulz war nur einfach weit genug weg, um nicht sogleich in Haft genommen zu werden für den Ausbau des Niedriglohnsektors zum zweitgrößten in der Europäischen Union hinter Litauen. Er war in Straßburg und Brüssel.
Cansel Kiziltepe war in Berlin. Erst sieben Jahre lang als persönliche Referentin des gegen die Agenda 2010 kämpfenden SPD-Abgeordneten Ottmar Schreiner, seit 2013 mit eigenem Bundestagsmandat. Sie hat gegen die Teilprivatisierung der Autobahnen gestimmt, gegen die Verlängerung der Bundeswehreinsätze in Somalia und Mali. Gegen die Einstufung von Algerien, Marokko und Tunesien als sichere Herkunftsstaaten und im Oktober 2015 – als Einzige ihrer Fraktion – gegen das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz. Sie wird meist erst gar nicht mehr angerufen, wenn die Fraktionsspitze Abweichler in den eigenen Reihen auf Linie zu bringen versucht.
In diesen Tagen arbeitet sie daran, dass die SPD bei ihrem Parteitag am Sonntag in Dortmund doch noch die Vermögenssteuer ins Wahlprogramm nimmt. „Wie soll man die Ungleichheit denn anders bekämpfen als mit der Vermögenssteuer?“, fragt sie, als über dem Dach des Neuen Kreuzberger Zentrums langsam die Sonne untergeht. Kiziltepe muss los, gleich steht noch die Moderation einer Diskussion mit dem Geschäftsführer des Berliner Mietervereins auf ihrem Plan, es geht um Milieuschutz, Modernisierung und Mieter.
Warum ist sie eigentlich nicht längst zur Linken übergelaufen? „Es gibt keine linke Mehrheit ohne die SPD“, sagt Kiziltepe.
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