Das britische Pfund abgestürzt, Kursverluste bei diversen Aktienindizes weltweit und insbesondere bei den Werten von Banken, die Wirtschaft des Königreichs in den ersten Momenten eines lähmenden Schocks, dessen Dauer noch nicht absehbar ist: Nach dem Ja einer Mehrheit der britischen Wähler und Wählerinnen zum Ausstieg aus der Europäischen Union intensiviert sich ein Zustand, an dessen grundsätzlichen Charakter der Kontinent sich längst gewöhnt haben müsste: Unsicherheit.
In einer ersten Umfrage des britischen Wirtschaftsverbands Institute of Directors nach dem Brexit-Referendum gab ein Drittel der 1.092 teilnehmenden Unternehmen an, sie würden nun Investitionen kürzen. Ein Viertel will bis auf Weiteres keine Neueinstellungen vornehmen, eines von fünf Unternehmen überlegt, Geschäftsaktivitäten an Standorte außerhalb Großbritanniens zu verlegen. So weit, so erwartbar.
Von wegen NHS
Und auch, dass das Versprechen der EU-Gegner, im Falle eines Austritts Großbritanniens bisherige EU-Mitgliedsbeiträge dem nationalen Gesundheitssektor NHS zukommen zu lassen, die Folie nicht wert war, auf der sie es als Bus-Werbung anbringen hatten lassen, überrascht kaum. Sprachlos macht höchstens, wie schnell und ungerührt Ukip-Chef Nigel Farage das Versprechen nach dem Referendum kassierte.
Wie aber wird Großbritanniens konservativer Finanzminister George Osborne nun mit seinen Ankündigungen aus der Zeit vor dem Referendum umgehen? Haushaltskürzungen bei Gesundheitsversorgung, Schulen, im Verteidigungsetat sowie Steuererhöhungen bei Benzin und Alkohol hatte Osborne für den Fall eines EU-Austritts angedroht. Würde Osborne, ein Bruder Wolfgang Schäubles im Geiste der Austerität, dies materialisieren, wäre das inmitten all der Unsicherheit glatter volkswirtschaftlicher Selbstmord.
Krasse Sparpolitik für von Rezession bedrohte oder betroffene Länder – die Verordnung dieses Rezeptes sahen die konservativen Hegemonen des Kontinents bisher nur für dessen Peripherie vor, allen voran für Griechenland. Was aber hat etwa Deutschland getan, als der größten Volkswirtschaft der EU in Folge der Banken- und Finanzkrise selbst das Wasser bis zum Halse stand? Allen Spar-Dogmen zum Trotz hat sich seine Regierung auf keynesianische Rezepte besonnen: Konjunkturpakete, Abwrackprämie, Kurzarbeit.
Voller Wut
Etliche, die nun – mitunter voller Wut über das Leave-Votum – schon den ökonomischen Untergang Großbritanniens prophezeien, könnten sich bald schon die Augen reiben: Was, wenn Osborne oder ein Nachfolger bald einen radikalen Kurswechsel vollzieht? Wenn es bald "Staatsausgaben statt Sparen, Investitionen statt Instabilität" heißt im Königreich? Wenn dem jahrelangen Mantra vom Schuldenabbau auf Kosten der Armen ein Krisen-bedingter Stimulus für Unternehmen und Arbeitsplätze folgt?
Dann könnten nicht zuletzt die in der EU verbliebenen Spar-Freunde bald schon ziemlich blöd aus der Wäsche gucken, insbesondere Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung, die die Strategien zum Zurückdrängen des Staates all die Jahre so staatsmännisch mitgetragen haben.
Nicht, dass sich dieses Szenario im Augenblick aufdrängen würde. Osborne blies an diesem Montag erst einmal ins gleiche Horn wie sein Parteifreund, der Noch-Premierminister David Cameron: Es bestehe keine Eile, den Austritt nach Artikel 50 des EU-Vertrags zu erklären, erst einmal solle bis zum Herbst ein neuer Regierungschef gefunden werden. Die britische Wirtschaft sei stark, das Land gut gerüstet für die ihm bevorstehenden Umwälzungen. Was man eben so sagt, um "die Märkte" zu beruhigen. Einstweilen helfen, wie es seit Jahren ungute europäische Übung ist, die Zentralbanken und puffern Risiken allein durch die Ankündigung massiver Interventionen einigermaßen ab.
Carney macht den Draghi
Schon am vergangenen Freitag hatte der Gouverneur der Bank of England, Mark Carney, die Worte des Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, von 2012 ("Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough.") paraphrasiert: "The Bank will not hesitate to take additional measures as required as those markets adjust and the UK economy moves forward."
Allein, das Ausmaß an Unsicherheit und Krise, die das britische Referendum heraufbeschwört, taugt durchaus zum Wendepunkt, von dem an zur Realität wird, wovor viele Beobachter längst warnen: Dass noch die expansivste Nullzins-Geldpolitik ihre Grenzen hat und nicht auf immer und ewig in der Lage sein wird, die fiskalische Verantwortungsverweigerung der Politik auszugleichen.
Insofern tut man gut daran, sich nicht allzu sehr mit Häme an den ohne Frage gegebenen Anpassungsherausforderungen der britischen Insel zu laben. Außerordentliche Ereignisse können außerordentliche Folgen zeitigen, und es ist nicht ausgeschlossen, dass eine von den Umständen erzwungene britische Abkehr von der Austerität die immer noch weiter fleißig sparenden Rest-Europäer wie begossene Pudel aussehen lassen könnte. Der Wirtschaftsjournalist Wolfgang Münchau hat im Handelsblatt gerade darauf hingewiesen, dass man sich wohl weniger um Großbritannien sorgen sollte, sondern vielmehr um die Euro-Zone: Denn in Italien, wo die Anti-Europa-Bewegung Fünf Sterne gerade große Erfolge bei den Kommunalwahlen gefeiert und das Bürgermeisteramt der Hauptstadt Rom erobert hat, steht im Herbst das nächste Referendum an – über die Verfassungsreform der Regierung Matteo Renzis. Scheitert diese an der von den Fünf Sternen getragenen Fundamentalopposition zahlreicher Bürger, so könnte die Regierung Renzi scheitern und Italien bald schon über seine Zukunft im Euro an und für sich abstimmen.
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