Andrea Nahles hat das Rückkehrrecht in Vollzeit als allererstes Regierungsprojekt ausgerufen, Katarina Barley der Lohnlücke zwischen Frauen und Männern den Kampf angesagt, da ist Franziska Giffey an der Reihe – und spricht sogleich von Zwangsheirat: „Wir dürfen nicht so tun, als wären das Einzelfälle“, sagt sie. Eine Wahl zwischen drei Cousins sei auch keine freie Wahl.
Es ist der 8. März, die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen hat zum Politischen Frauensalon ins Ballhaus Rixdorf nach Berlin-Neukölln geladen, Giffey weiß: Es ist einer ihrer letzten Tage als Bürgermeisterin des Bezirks. Tags darauf wird die SPD sie als neue Bundesfamilienministerin vorstellen.
Im Ballhaus startet das Buffet, ein Dutzend Fernsehkameras halten auf die neben Angela Merkel einzige Ostdeutsche im Kabinett, draußen drängen sich Frauen mit Kopftuch und englische Touristen mit Bierflasche entlang des Kottbusser Damms, vorbei an MäcGeiz und Bio Company, Pfandleihhaus und Programmkino; Polizei-Blaulicht erhellt den Abend, auf Höhe einer Spielothek macht jetzt die Frauenkampfdemo halt, „Es kann keine feministische Revolution geben ohne Solidarität mit der Arbeiterbewegung“, ruft jemand. Willkommen in Berlin-Neukölln, wo „soziale Brennpunktsituationen mit allem, was die Gentrifizierung so zu bieten hat, in nächster Nähe aufeinandertreffen“, um es in den Worten der 39-jährigen Giffey zu sagen.
Hier hat sie angefangen, nachdem sie ihr Lehramtsstudium wegen einer Kehlkopfmuskelschwäche aufgeben musste – 2002, als Europabeauftragte des Bezirks, das Aufgabenfeld hatte ihr damaliger Chef Heinz Buschkowsky klar beschrieben: „EU-Kohle nach Neukölln holen“. 2005 trat sie der SPD bei, wurde 2010 Bezirksstadträtin für Bildung, Schule, Kultur sowie Sport und 2015 dann Buschkowskys Nachfolgerin an der Spitze des Bezirksamtes. Sie werde „eine der wenigen Talkshow-Gäste sein, die das reale Leben nicht von Erzählungen des Taxifahrers kennt, sondern knallhart aus Neukölln“, kommentierte Bilkay Kadem Giffeys Berufung; Kadem hieß bis vor Kurzem Öney, war SPD-Abgeordnete in Berlin und dann Integrationsministerin in Baden-Württemberg und will bald wieder nach Neukölln zurückziehen. „Klare Haltung und Sprache, unerschrocken und pragmatisch“: Was Kadem an Giffey schätzt, das loben viele, die mit ihr zusammengearbeitet haben.
Der Inhalt jener „klaren Sprache“ wiederum gefällt nicht allen, etwa wenn Giffey sagt: „Es gibt einige EU-Bürger und EU-Bürgerinnen, die, wenn sie hier leben wollen, selbst ihren Unterhalt finanzieren müssen. Dafür kann der deutsche Staat nicht aufkommen. Wenn sie das nicht können, müssen sie zurückgehen.“ Mit Giffey rücke die Bundes-SPD nach rechts, urteilte etwa Susanna Kahlefeld, die für Neukölln im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt und Mitglied der Grünen ist, mit denen die SPD im Bezirk eine Zählgemeinschaft bildet. „Giffey ist nicht rechts“, entgegnete die SPD-Bezirksparlamentarierin Marina Reichenbach, „sie verbindet das Einfordern von Regeln mit Wertschätzung. Wer einen Abwahlantrag der AfD kassiert, spielt ganz weit oben in der antifaschistischen Liga.“ Der Buchhändler Heinz Ostermann, eines der Opfer der mutmaßlich rechtsterroristischen Anschlagserie in Neukölln, sagt über Giffey: „Ich habe sie wirklich schätzen gelernt. Sie hat sich immer klar positioniert, war auf Kundgebungen und hat die Opfer der Brandanschläge zu einer Gesprächsrunde eingeladen.“
„Vermögensabschöpfung!“
Rechts, links, Law and Order, Multikulti – Giffey ist ähnlich schwer zuzuordnen wie jene Bürgermeister, die deutsche Journalisten gern im belgischen Mechelen und im niederländischen Rotterdam besuchen: Bart Somers und Ahmed Aboutaleb stehen für die Verzahnung des harten Durchgreifens gegen Kriminalität mit dem Einsatz für die offene Gesellschaft.
Von den kriminellen Strukturen arabischer Familien-Clans dürfte die fortan für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zuständige Frau jedenfalls mehr Ahnung haben als der neue CSU-Bundesinnenminister aus Bayern – das zeigen schon ein paar Minuten der Interview-Sendung Hörbar Rust auf Radio Eins: „Acht“, nicht „zehn“ solcher Clans gebe es im Bezirk, korrigiert Giffey die Moderatorin. Und neben Drogen- und Menschenhandel, Prostitution und Glücksspiel bildeten die legale Investition illegaler Gelder in den Immobilienmarkt, die Bereitstellung von Flüchtlingsunterkünften und Sicherheitsdiensten deren allerneueste Geschäftsfelder. Weswegen Giffey mit ihrer Forderung nach „empfindlicheren Strafen“ meint: „Vermögensabschöpfung konsequenter durchziehen!“ – „Wenn der BMW, Mercedes, Audi beschlagnahmt und nicht wieder herausgegeben wird oder der schlangenlederbesetzte Tisch nicht mehr ins Wohnzimmer zurückkehrt, ist das ein ganz wichtiges Signal.“
Doch Giffey wird nicht für die Justiz- oder Innen-, sondern für Familienpolitik zuständig sein – und damit für die Ausgestaltung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter, qualitative und quantitative Verbesserungen in der Kita-Betreuung, die finanzielle Absicherung von Frauenhäusern oder etwa die „Stärkung der Teilhabe von Frauen im ländlichen Raum“ mit besonderem Fokus auf „kleinere Familienbetriebe“.
Damit kennt sich Giffey aus – ihre Familie arbeitet in der Kfz-Werkstatt des Bruders im brandenburgischen Odervorland mit. Sie war 1989 elf Jahre alt und erlebte, wie ihre Eltern, Buchhalterin und Fahrzeugmeister, durch die Privatisierungen erst erwerbslos wurden und dann wieder Arbeit fanden. Ob sie die enttäuschtesten Ostdeutschen für die Regierung gewinnen kann, wird sich zeigen – die Wende hält Giffey für „den Glücksfall des letzten Jahrhunderts“, bis heute anhaltendes Hadern mit ihr kann sie „nicht ganz nachvollziehen“.
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