Gott, Kirche, Kapital. Am Beispiel der Jesuitenreduktionen

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In der Weihnachts-ZEIT (53, 22.12.2009) findet sich ein bemerkenswerter Beitrag von Christian Schmidt-Häuer über ein Utopia im Regenwald, in dem die Jesuiten im 17. und 18. Jahrhundert in Lateinamerika versuchten, mit den Ureinwohnern zusammen ein christliches Gegenmodell zur herrschenden Ausbeuter- und Sklavengesellschaft zu etablieren (1). Am Ende bedeutete das für ca. 200 000 Indianer die Chance zu einem Leben "in innerem Frieden und relativem Wohlstand - während im übrigen Amerika und in Europa Scharen von Bettlern und Armen durch die Lande zogen." Dieser "Jesuitenstaat" sei damals das einzige "Industrieland" Südamerikas gewesen (produziert wurde allerdings eher in Werkstätten) und habe über ein Sozial- und Rechtswesen verfügt, das seiner Zeit um ca. 200 Jahre voraus gewesen sei. Dass es dort auch eine Hochkultur im europäischen Sinne gab, ist in den vergangenen Jahren unter anderem durch diverse CDs zum lateinamerikanischen Barock bekannt geworden (2).

Die Musik nimmt Christian Schmidt-Häuer denn auch zum Anlaß seines Rückblicks in die Vergangenheit, denn, ähnlich dem Musik-Bildungssystem "Sistema" in Venezuela scheint sich auch in Paraguay eine Musik-Bildungs-Bewegung herauszubilden, die an die Tradition vor 200 Jahren anknüpft (3).

Es gäbe auch politische Anknüpfungspunkte, zum Beispiel die Frage, weshalb einige Schwellen- und Drittweltländer sich in Kopenhagen verweigerten - und überhaupt mehr Wiedergutmachung von den reichen Industrienationen verlangen. Die Geschichte der "Reduktionen" der Jesuiten in Lateinamerika ist nämlich ein weiteres beredtes Beispiel dafür, dass und wie brutal unser Wohlstand historisch auch durch Versklavung, Raub und Mord entstand. Insbesondere wäre die Lektüre des Beitrags Peter Sloterdijk empfohlen, der immer noch glaubt, Erlösung warte nur in Guidos neoliberalen Vampirträumen (4).

Vernichtet wurde der "Jesuitenstaat" schließlich 1767 durch ein königliches Dekret aus Spanien, in dem den Interessen von Sklavenhaltern und anderen kirchlichen und weltlichen Ausbeutern Rechnung getragen wurde. Wenn nichts mehr geht, Rufmord geht immer. Also wurde den Jesuiten unterstellt, sie wollten den spanischen Regenten stürzen. Das wäre Hochverrat. In der Folge wurden die Jesuiten aus den Kolonien verbannt.

Der österreichische Dramatiker Fritz Hochwälder hat das Thema in seinem Stück Das heilige Experiment verarbeitet (5), auf dem der englische Historienfilm The Mission (1986) (6) basiert, in dem die Endphase des "heiligen Experiments" mit viel Stars & Action dargestellt wird.

1767 also wurde ein christliches Experiment, in dem den Indianern nicht nur ein Glauben an ein zukünftiges unirdisches "Paradies", sondern auch ein ganz irdischer Wohlstand der Nationen gebracht worden war, gewaltsam beendet. 1776 erschien das gleichnamige Buch von Adam Smith, in dem, wenn ich das richtig sehe, genau jener im "Jesuitenstaat" verwirklichte Wohlstand der Nationen prinzipiell für unmöglich erklärt wird. Das System dagegen, das diesen Wohlstand für Jahrhunderte vernichtete wird zum allein selig machenden erklärt.

Interessant scheint mir in diesem Zusammenhang auch ein weiterer Gedanke: die offenbar einigermaßen humanen Jesuitenreduktionen wurden genau von dem Orden eingerichtet, der sich den Kampf gegen den Protestantismus auf die Fahnen geschrieben hatte. Das Vorantreiben des Kapitalismus dagegen wurde von Max Weber einer protestantischen Ethik zugeschrieben.

Viel Stoff also zum (post-weihnachtlichen) Nachdenken. Ich selbst will dies hier nicht weiter tun. Es ging mir in erster Linie darum auf den Artikel von Schmidt-Häuer und sein Potential hinzuweisen (7).

Links, die hoffentlich (mehrheitlich) funktionieren:

(1)

www.zeit.de/2009/53/Jesuitenstaat

www.cl-deutschland.de/spuren/artikel.php?jahr=2008&;;;monat=jul&file=thema2_jul08.php

(2) Kurze Hörbeispiele gibt es hier:


www.cd-baroque.com/index.php/cdbaroque/accueil/disques_k617/catalogue/baroque_latino_americain/musiques_des_missions_et_des_cathedrales_andines

www.cd-baroque.com/index.php/cdbaroque/accueil/disques_k617/catalogue/baroque_latino_americain/tupasi_maria_chant_sacre_des_indiens_guarani_chiquitos_moxos#


www.independent.co.uk/arts-entertainment/music/features/the-jesuits-invent-fusion-665055.html

(3) www.zeit.de/online/2009/17/el-sistema

(4) Hier einige (ungeprüfte) Links zum Thema:

de.wikipedia.org/wiki/Jesuiten

de.wikipedia.org/wiki/Jesuitenstaat

www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/637.html#26

web.archive.org/web/20070928003005/http://home.nikocity.de/schmengler/texte/paraguay.htm

www.jesuiten.org/profil/begriffslexikon/files/flyer_reduktionen.pdf

books.google.at/books?id=lwYOAAAAQAAJ&;pg=PA159&lpg=PA159&ots=3DtoXfNHS9&dq=pater+pauke+jesuiten+paraguay

deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?

de.wikipedia.org/wiki/Florian_Baucke
idn=975632906&dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename=975632906.pdf

www.newadvent.org/cathen/10412b.htm

de.wikipedia.org/wiki/Guaran%C3%AD_(Volk)

www.daserste.de/ttt/beitrag_dyn~uid,b6nfby85sqgz1x72~cm.asp

commons.wikimedia.org/wiki/Category:Guaran%C3%AD?uselang=de

www.guarani-indianer.de/

(5)

de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Hochw%C3%A4lder


www.wienerzeitung.at/Desktopdefault.aspx?TabID=3946&;;;Alias=wzo&lexikon=Autoren&letter=A&cob=5469

(6) de.wikipedia.org/wiki/Mission_(Film)

(7) Weiterführende Links( Las Casas, Kapitalismus):

de.wikipedia.org/wiki/Bartolom%C3%A9_de_Las_Casas

www.philosophieren.de/menu1/philosophen/lascasas/lascasas.pdf

mdz10.bib-bvb.de/zend-bsb/pdf_download.pl?id=00028320&;nr=1

www.holy.or.at/texte/Bordat%20Josef.

forum.politik.de/forum/geschichte/184886-kanonen-pest-und-die-entstehung-des-kapitalismus.html

forum.politik.de/forum/wirtschaft-und-sozialsystem/98994-entstehung-des-kapitalismus-und-koloniale-ausbeutung.html

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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