Grün-Rot in BW: ...und ZEIT Online lässt hetzen...

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Entgegen der veröffentlichten Meinung steht Grün-Rot in Baden-Württemberg noch nicht. Genaueres wird man erst am 12. Mai oder später wissen. Stichworte: Ypsilanti und Simonis. Oder auch: Drechsler und Schmiedel.

Noch länger wird es dauern, bis man in etwa absehen kann, was der heute vorgestellte Koalitionsvertrag wert ist. Vor allem die Altstalinisten in der SPD, die noch immer nicht begreifen wollen oder können, dass am 27. März die von Merkel im Herbst angekündigte "Volksabstimmung" zu S21 und anderem nunmehr stattgefunden und zumindest im hauptsächlich betroffenen Stuttgart ein eindeutiges Ergebnis gezeitigt hat, sind allemal für unangenehme Überraschungen gut.

Obwohl also überhaupt noch nicht abgemacht ist, was nach dem 12. Mai tatsächlich sein wird. Und obwohl außer einem Mappus-würdigen Affront gegen die Stuttgarter Bürger hinsichtlich S21 auch nichts wirklich Spektakuläres zu erwarten bzw. zu befürchten ist, versucht dümmlicher bzw. ideologisierter Journalismus seit Wochen, nicht vorhandene Mücken zu virtuellen Elefanten aufzublasen, um endlich das Gespenst zu bekommen, vor dem man sich dann endlich so gerne lüstern fürchten kann.

Und wenn gar nichts mehr geht, so ist allemal Verlass auf die Internet-Meute, die, wie unten demonstriert werden soll, offenbar gerne mit Pawlowschen Reflexen reagiert, wenn man sie nur entsprechend anfüttert.

Man muss der ZEIT Online-Redaktion nun gar nicht unterstellen, dass sie dies heute mit ihrem hektischen Zusammenschustern von Agentur-Meldungen zum grün-roten Koalitionsvertrag bewusst getan hat. Das hieße, ihre Kompetenz überschätzen. Dass sie es aber - wider besseres Wissen - über Stunden hinweg zuließ, dass schwarz-gelbe Parteigänger dieses oberflächliche und missdeutige Stückchen dazu nutzten, aus ihren tradierten ideologischen Schützengräben heraus wieder einmal gezielt Lügen und Falschmeldungen in ihren Kommentaren zu platzieren, lässt - in Zusammenhang mit dem vorausgegangenen kollektiven Rauswurf der kritischen Community - zumindest vermuten, dass nach dem Aussperren dieser Kritik die Qualität von ZEIT Online in Zukunft noch unterirdischer sein wird. Auch wenn dies eigentlich kaum noch möglich schien.

Beispielhaft aber zeigt diese Geschichte, wie aus dem Zusammenspiel von inkompetenter Redaktion und verleumdungswilligem Kommentariertum eine Internet-generierte Politik-Versauung entsteht, deren Langfristwirkung nicht gut sein kann.

Ausgangspunkt in diesem Beipiel war ein harmloser Satz, wie er einem schon mal unterlaufen kann, im Internet aber offenbar nicht unterlaufen sollte:

"Künftig soll es mehr Ganztagsschulen und die Gemeinschaftsschule bis zur Klasse 10 geben." (1)

Das ist nicht falsch. Nicht einmal irreführend. Es sei denn, man möchte dringend irregeführt werden. Und der Erst-Kommentator und seine Followers wollten offenbar genau dies:

" Ein Land, dass in PISA ganz vorne ist...übernimmt die überholte Konzepte von Ländern, die in PISA ganz hinten sind. Verrückte Welt! Dafür laufen Atomkraftwerke genauso lange weiter, wie es unter Schwarz-Gelb der Fall gewesen wäre, und S21 wird auch gebaut. Das geschieht den Schwaben recht."

Und sie wollten es offenbar desto mehr, je mehr im Verlauf der Debatte richtiggestellt wurde. So hieß es also lange nach dem noch relativ harmlosen Kommentar 1 um 14:04 in Kommentar 52 um 17:44 schließlich:

"Bisher sitzt auch im Gymnasium das begabte Arbeiterkind neben dem Professorenkind (immerhin gehen ja 40% eines Jahrgangs auf das Gymnasium). Geht es nach Grün-rot, gehen begabte Kinder reicher Eltern dagegen bald auf Privatschulen (bisher eher Anstalten für minderbegabte oder sozial auffällige Kinder reicher Eltern), begabte Kinder armer Eltern bleiben mit dem Rest auf die Gemeinschaftsschule und werden bis zur 10. Klasse ausgebremst, im schlimmsten Fall für gute Noten verprügelt (sozialer Aufstieg starkt gefährdet)."

Nach der professionelleren Berichterstattung der FTD wäre solches zwar nicht ausgeschlossen, aber doch eher unwahrscheinlich gewesen. Vor allem aber hätte jeder Leser den Widerspruch der Kommentatoren-Inhalte zur Realität wahrnehmen können:

"Zentral ...ist die umstrittene Gemeinschaftsschule. Diese will Grün-Rot jedoch niemandem aufzwingen, sondern nur auf Nachfrage der Kommunen einführen. Das könnte gerade ländlichen Gemeinden helfen, wo die Schule vor Ort zu den wichtigsten Standortvorteilen gehört. Eine Gemeinde, der für eigenständige Haupt-, Realschulen oder Gymnasien die Schüler fehlen, soll sich in Zukunft für gemeinsames Lernen bis Klasse zehn entscheiden können.

Auch die Ganztagsschule will die neue Landesregierung vorantreiben. Sie wird im Schulgesetz als neue Regelschule festgeschrieben. 1500 neue Lehrer sollen den pädagogischen Zusatzbedarf decken. Die alte CDU-Regierung hatte die Ganztagsschulen aus Rücksicht auf die Hausfrauen nur zögerlich umgesetzt." (2)

Das ist kein Arbeit-nach-Vorschrift-Journalismus, das ist spitze. Insbesondere der Verweis auf die besonders von Kultusminister Mayer-Vorfelder (1980-1991) offen propagierte Hausfrauen - und - Rabenmutter - Ideologie. Dieser Verweis ist wahr und macht überdies deutlich, wie lange Eltern und Kinder in diesem Punkt leiden mussten, sofern nicht einzelne Schulen - wie die meine -, sich selbst an die Bereitstellung eines Mittagessens und einer Nachmittagsbetreuung machten.

Wer die Phoenix-Übertragung der rot-grünen Pressekonferenz heute verfolgte, konnte überdies noch hören, dass das Gymnasium mitnichten in Frage gestellt wird, sondern als zusätzliche Option wieder den den 9jährigen Zug bekommen soll, sofern die Betroffenen dies wünschen; des weiteren soll der Zugang zu den beruflichen Gymnasien (eine baden-württembergische Spezialität?) - in meinen Worten - optimiert werden; bereits vorliegende Anträge von Kommunen für Gemeinschaftsschulen, die von Schwarz-Gelb blockiert wurden, sollen genehmigt werden; die Grundschulempfehlung für die weiterführenden Schulen soll zu einer tatsächlichen Empfehlung werden, die Entscheidung sollen in Zukunft die Eltern treffen; die frühkindliche Erziehung soll verbessert und ein Rechtsanspruch für alle Kinder werden; die Studiengebühren sollen ab SS 2012 wegfallen und die demokratische Mitbestimmung der Studenten wieder eingeführt werden.

Selbst die eher konservative StZ nennt dies "bunter" - also das Gegenteil von Einheitlichkeit. Und bürgernäher als die bisherige, von oben verordnete Bildungspolitik ist es obendrein. (3) Dass in demselben Staatsministerium, das wohl nicht ohne Grund als Ausgangspunkt des Wasserwerfereinsatzes gegen Schüler am 30.09.2010 angesehen wird, (noch) der ehemalige Kultusminister Rau sitzt, mag man durchaus als irgendwie bezeichnend betrachten.

Von all dem ist bei ZEIT Online (und auch anderswo) allerdings nichts zu lesen. Das ist schon schlimm genug. Dass man aber den Kommentar-Teil auch noch dazu missbraucht, klare Falschmeldungen und gezielte Stimmungsmache zuzulassen, die man sich selbst der professionellen "Ehre" wegen nicht erlauben kann, das verkehrt die bisher angenommene Transparenz- und Demokratisierungsfunktion des Internets in ihr Gegenteil. Man kann nur hoffen, dass seriösere Portale diesem Beispiel nicht folgen.

Dass ZEIT Online Redakteur Michael Schlieben sich nun seinerseits kritisch zu unterirdischer "Kritik" anderer Online Medien an Grün-Rot äußert, ist zwar begrüßens- und lesenswert, aber die hier monierten Punkte spricht er leider nicht an. Wäre ja Selbstkritik....(4)

(1) www.zeit.de/politik/deutschland/2011-04/baden-wuerttemberg-koalitionsvertrag

(2) www.ftd.de/politik/deutschland/:koalitionsvertrag-in-baden-wuerttemberg-wie-der-suedwesten-er-rot-gruent/60043710.html?mode=print

(3) www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.koalitionsverhandlungen-die-bildungslandschaft-im-suedwesten-wird-bunter.102d9f16-bded-43cf-a792-4041beb40834.html

www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.der-weg-zu-mehr-buergerbeteiligung-die-regierung-wertet-ihre-buerger-auf.e375d2c8-389d-43c8-8979-4df56effc4da.html

(4) www.zeit.de/politik/deutschland/2011-04/gruen-rot-baden-wuerttemberg-koalitionsvertrag?page=all

Zur Koalitionsvereinbarung geht's übrigens hier lang:

www.gruene-bw.de/fileadmin/gruenebw/dateien/Koalitionsvertrag-web.pdf

Ergänzt und überarbeitet am 27.0.4.2011, 23:00 h.


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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

seriousguy47