S21- 106. Montagsdemo: Demokratie am Scheideweg

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Kann das Zufalls sein? Gerade haben Kretschmann & Schmid sich durch einen als „Volksentscheid“ geschminkten Volksbetrug eine Scheinmehrheit wider Wahrheit und Vernunft zusammenmanipuliert, da entdeckt in Syrien ein Herr Assad ebenfalls die Magie des „Volksentscheids“ und kündigt für kommenden März eine „Volksabstimmung“ über eine neue Verfassung an. „Der Schlächter will sich reinwaschen“, kommentiert daraufhin Yassin Musharbash bei SPIEGEL Online. Und man könnte das für Kretschmann und seinen „Volksentscheid“ umformulieren in „Der Wahlbetrüger will sich reinwaschen“.

www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,808190,00.html

www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,808283,00.html

Man mag sich über die Herstellung solcher Bezüge mokieren oder nicht. Mir scheint es gerechtfertigt zu sein, zumindest festzustellen, dass hier ein grüner Ministerpräsident und ein blutiger Diktator nahezu zeitgleich den Charme der Demokratur bzw. Diktokratie entdecken. Und wenn man den Blick erweitert, dann mag man auch in Nordafrika mit Beklemmung sehen, wie diejenigen, die mit ihrem Mut und dem Einsatz ihres Lebens den Sturz diktatorischer Regime herbeiführten, ziemlich „demokratisch“ entmündigt und entmachtet werden.

Man mag sich daran erinnern, wie Ähnliches nach dem Fall der Mauer passierte, als die Bürgerrechtler, die ihren Kopf hingehalten hatten, von einer Bananenmehrheit mehrheitlich unter den Kohlschen Arsch geschoben und dortelbst platt gesessen wurden.

Und man kann aktuell in Berlin, Stuttgart und an der Saar bestaunen, wie weit das Krebsgeschwür von Filz und Korruption sich bereits auch in unser politisches System vorgefressen hat – und für wie selbstverständlich dies offenbar mittlerweile gehalten wird. So selbstverständlich, dass der „Pate von der Saar“ (SPIEGEL) nun sogar einen Spezi im Bundesverfassungsgericht sitzen hat. Und der „Andenpakt“ in der CDU, dem laut SPIEGEL u.a. Roland Koch (!), Christian Wulff (!), Matthias Wissmann, Günther Oettinger (!), Volker Bouffier, Kurt Lauk, Elmar Brok, Heinrich Haasis. Peter Müller und Friedrich Merz angehören, kann sein „legitimes Theater“ (Müller) nunmehr auf allen Ebenen der Republik und der EU zur Aufführung bringen.

www.spiegel.de/spiegel/print/d-68703731.html

www.welt.de/politik/deutschland/article13734856/Ex-Ministerpraesident-Mueller-wird-Verfassungsrichter.html

de.wikipedia.org/wiki/Andenpakt_%28CDU%29

Stuttgart ist dabei nicht nur überaus stark vertreten, es ist auch in anderer Hinsicht viel schöner als Berlin. Zumindest, wenn man als hochrangiger Politiker nach Geiz-ist-geil-Krediten Ausschau hält. Eine Angestellte der BW-Bank soll jüngst gar darüber geklagt haben, dass es eine rege Nachfrage nach Wulff-Krediten gebe – die natürlich, mangels Prominenz, alle abschlägig beschieden werden müssen....

Und das soll, bittesehr, auch so bleiben. Auch bei der Bedienung von Immobilienhaien möchte man gerne besser werden als Berlin. Dafür hat OB Schuster nicht nur durch S21 vorgesorgt: „Wesentliche Weichen für eine weitere positive Entwicklung seien gestellt; allein in der Innenstadt würden in den nächsten drei Jahren mehr als eine Milliarde Euro von privaten Bauherren investiert“. So Achim Wörner in der StZ, wo er schmatzend in der medialen Schleimspur mitkriecht, die Schusters gestrige Abgangserklärung nach sich zieht.

www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.wolfgang-schusters-rueckzug-privates-geht-kuenftig-vor-politik.fb399b34-c2a3-4050-9e5d-164167c4c2e4.html

Die Nichtigkeiten der Schusterschen Selbstbeschleimung werden denn auch ausführlichst breitgetreten und die Riege von zur Nachfolge bereit stehenden Horrorkandidaten scheint bereits beachtlich. Tatsächlich Beachtenswertes aus der Hauptstadt von Filz, Geiz und Gier wurde allerdings weitab vom Rathaus und, wie üblich, medial unbeachtet während und nach der 106. Stuttgarter Montagsdemo gesagt.

Die Redner auf der eigentlichen Montagsdemo beschränkten sich – verständlicherweise – auf unmittelbare Fragen zum Projekt 21.

Reiner Weigand
vom Arbeitskreis ‚Bürgertribunal‘ zählte auf, wo Ministerpräsident Kretschmann nicht nur zum Wahlbetrüger wurde, sondern auch auf dem „besten“ Weg ist, seinen Amtseid ( „Schaden vom Volke zu wenden“ ) mit den Füßen zu treten:

„Unser Fazit, Herr Ministerpräsident:
Binnen kürzester Frist haben Sie das Vertrauen der Wähler verloren, die Sie gewählt haben, in der Erwartung, dass Sie sich ehrlich und mit allen Ihnen zur Verfügung stehenden gesetzlichen Mitteln gegen dieses Wahnsinnsprojekt stellen, das der Stadt und dem Land auf Jahrzehnte hinaus Unglück und Schaden bringen wird. Und als Landesregierung stünden Ihnen doch eine ganze Reihe von gesetzlichen Mitteln zur Verfügung!...“


Dr. Carola Eckstein, Parkschützerin und ‚Ingenieurin22 für den Kopfbahnhof‘, erläuterte, weshalb die Bahn auf absehbare Zeit gar nicht bauen kann und deshalb auch keinerlei Notwendigkeit besteht, erneut sinnlos ein geschütztes Baudenkmal zu zerstören:

„Die Bahn pocht seit Monaten lautstark auf ihr angebliches Baurecht – zumindest im Fall unseres Schlossgartens und des Grundwassermanagements hat sie aber gar kein Baurecht, das hat der Verwaltungsgerichtshof Mannheim unmissverständlich klar gestellt.....
Es geht noch mindestens ein weiteres Jahr ins Land, bevor die Bahn mit einem fertigen, in ausreichendem Umfang arbeitenden und erprobten Grundwassermanagement aufwarten kann.
Ohne Grundwassermanagement kann keine Baugrube ausgehoben werden, sie wäre voller Wasser. Und solange keine Baugrube ausgehoben werden kann, ist auch der Südflügel nichts und niemandem im Weg....“

Conny Hüsgen vomTeam Aussteiga/BG Wurzel brachte es politisch auf den Punkt:

„In Wahrheit verfolgt die Bahn ein klares Ziel mit der derzeit vollkommen unnützen Rückbau-Maßnahme am Südflügel: es ist eine Machtdemonstration mit dem Ziel, den Widerstand zu schwächen und einen Ausstieg aus dem Projekt unwahrscheinlicher zu machen.
Wie bereits mit dem vollkommen überflüssigen Abriss des Nordflügels soll uns Gegnern vor Augen geführt werden: wir von der Bahn machen eh, was wir wollen – und Ihr könnt nur tatenlos zuschauen. Außerdem hofft man drauf, dass die neutralen Bürger sagen „Jetzt ist eh schon so viel kaputt, da baut man am besten weiter“.

Die vollständigen Redetexte finden sich bei BAA:

www.bei-abriss-aufstand.de/2012/01/09/reden-der-montagsdemo-am-9-1/

Im Anschluß widmete sich der Richter a. D. und Mediator Christoph Strecker dem Thema "Recht" und Andreas Mayer-Brennenstuhl hielt eine bemerkenswerte Rede zum Thema "Kultur/Demokratie".

Zitat Christoph Strecker:

„Die Projektförderungspflicht des Landes geht nicht weiter als die Pflicht der Bahn zur Kooperation. So lange die Bahn sich weigert, ihre Kostenkalkulationen und Risikolisten offen zu legen, ist das Land auch nicht verpflichtet, sich auf unkalkulierbare Risiken einzulassen. Wenn die Landesregierung gleichwohl das Projekt der Bahn fördert, dann tut sie das nicht, weil sie muss, sondern weil sie will.
Durch das Ergebnis der Volksabstimmung wird die Regierung zu gar nichts verpflichtet. Sie wird nur nicht aufgefordert, Kündigungsrechte geltend zu machen. Die Bevölkerung hat in der Volksabstimmung nicht gesagt, sie wünsche eine Verschlechterung der Verkehrsverbindungen, die einen integrierten Zeittakt unmöglich macht; sie hat nicht beschlossen, sie wünsche keinen barrierefreien Bahnhof und Gleise mit einem Gefälle, das den Lokführern Angst macht; schließlich hat sie sich auf die Zusage der Regierung verlassen, den Kostendeckel von 4,5 Mrd. Euro einzuhalten, und sie nicht ermächtigt, ihn anzuheben, wie es jetzt bereits angekündigt wird. Das Ergebnis der Volksabstimmung zwingt die Regierung also zu nichts. Wenn sie nun der Bahn bei der Umsetzung ihrer Pläne hilft, dann tut sie das nicht, weil sie muss, sondern weil sie will
Mit Hinweis auf das Baurecht der Bahn soll nun auch die Polizei eingesetzt werden, um die Zerstörung von Kultur- und Naturdenkmalen auch gegen die demonstrierenden Bürgerinnen und Bürger durchzusetzen. ....“

Zitat Andreas Mayer-Brennenstuhl

„Wir müssen darüber hinaus feststellen, dass sich mit dieser Aktion ein weiterer Schritt in Richtung einer postdemokratischen Gesellschaft vollzieht, in der die Politiker nur noch Getriebene von Teilen der Gesellschaft sind, die ihre ökonomischen Partialinteressen gegenüber dem Allgemeinwohl rücksichtslos und unter Funktionalisierung der Staatsgewalt gegen die Bevölkerung durchsetzen.
Wir müssen auch erkennen, das die Weiterentwicklung der Demokratie hin zu mehr Bürgerbeteiligung von Parteipolitikern, allen voran der SPD, schamlos konterkariert wird und das Instrument des Volksentscheides umfunktioniert wird zu einem Manipulations-Instrument, das mit absurdem Quorum, geballter Medien-Macht und Lügen-Propaganda zum Gegenteil dessen wird, als was es gemeint ist: Als Möglichkeit des herrschaftsfreien Diskurses um das Allgemeinwohl in Konsens- und sachorientierten Diskussionen zu ermitteln.

Wir haben erlebt, wie alle angeblichen Angebote, den Konflikt zu befrieden, nichts weiter waren als Mogelpackungen mit dem Zweck der Durchsetzung des ungewollten Projektes. Die Schlichtungsrunde mit Heiner Geißlers Schiedsspruch: reine Augenwischerei ohne Ergebnis. Der sog. Stresstest: ein einziges Lügenmanöver. Der sog. Volksentscheid: ein Regierungsreferendum mit vorgeplantem Ausgang um die kritische Bevölkerung „zum Schweigen zu bringen“ , so Herr Schmid und „einen Knopf dran zu machen“ so Herr Kretschmann.Wir werden aber nicht schweigen und ihr werdet uns nicht los!...
Die Verteidigung der Vernunft hat sich in Stuttgart an einem Ereignis entzündet, das Beispielhaft ist auf lokaler Ebene für eine globale Politik der Unvernunft, des falschen Fortschrittsglaubens und der neoliberalen Ideologie. Deshalb sagen wir hier in Stuttgart: Es geht um mehr als einen Bahnhof. Die Menschen, die hier mit hohem persönlichen Einsatz den Schlossgarten besetzt haben, sind keine asozialen Spinner, als die sie immer wieder verunglimpft werden, vielmehr sind es Menschen, die gewissermaßen als Avantgarde der Gesellschaft begriffen haben, dass lebensweltliche Interessen nicht privater Natur sind, sondern die Allgemeinheit betreffen. In der Tatsache, dass sich in unserer Bewegung Menschen aller Altersgruppen, sozialen Schichten und Einkommensklassen verbündet haben mit einem gemeinsamen Ziel, zeigt sich zum ersten mal in der Geschichte ein Phänomen, das die Soziologen Antonio Negri und Oliver Hard mit dem Begriff „Multitude“ vorhergesagt haben. Die „ Multitude“ ist keine Klasse und kein Volk, sie ist die gemeinsame Bewegung all derer, die ihre gemeinwohlorientierten Interessen gemeinsam verteidigen....“

Auch hier können die vollständigen, höchst lesenswerten Redetexte bei BAA nachgelesen werden:

www.bei-abriss-aufstand.de/2012/01/09/2-reden-von-der-kulturveranstaltung-am-sudflugel/

Und was gibt es sonst noch zu berichten? Vielleicht, dass ich die letzte Montagsdemo wieder mal geschwänzt habe, aber der Verkäuferin beim Biobäcker hoch und heilig versprach, jetzt wieder hinzugehen. Oder, dass mich ziemlich viele fremde Menschen freundlich grüßen, seit ich meine Widerstandsbuttons nicht mehr auf dem Rucksack, sondern an der Jacke trage.....?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

seriousguy47