Kurdische Frauenbewegung: Eine Geschichte, die viel zu selten erzählt wird
Feminismus Weder männlich, noch eurozentrisch: Die historische kurdische Frauenbewegung inspiriert alle möglichen Freiheitsaufstände und wird trotzdem häufig unsichtbar gemacht. Wie erklärt sich dann trotzdem ihre Kraft?
Paris, 2017: Drei Kurdinnen demonstrieren für die Freilassung Abdullah Öcalans
Foto: Jacques Demarthon/AFP via Getty Images
Im Jahr 2014 kämpften kurdische Frauen gegen den sogenannten Islamischen Staat. In grünem Tarnfleck, mit Kalaschnikow in der Hand, die langen Haare nach hinten gekämmt, weckten sie das Interesse der westlichen Medien. Haben kurdische Frauen schon immer gekämpft? Und wofür eigentlich? Ein Jahr zuvor machte der Mord an drei kurdischen Frauen auf offener Straße in Paris Schlagzeilen in Frankreich. Wieso wurden sie ermordet? Eine dieser Frauen, Sakine Cansiz, war eine der Vordenkerinnen des seit September 2022 weltweit bekannten Slogans der Proteste im Iran: „Jin, Jiyan, Azadi“ – „Frau, Leben, Freiheit“. Was bedeutet dieser Slogan denn genau? Im Berliner Buchladen She Said sah ich vergangenes Jahr Cansiz’ Autobiografie. Sie ist
st eine der Mitgründerinnen der Kurdischen Arbeiterpartei, kurz PKK. Viele Menschen in Deutschland kennen die PKK aus der Tagesschau, wenn überhaupt. Dass es einen kurdischen „Feminismus“ gibt, wissen hierzulande wohl noch weniger.Es würde helfen, das verbindende Band all dieser Puzzlestücke zu bennen: Es ist die radikale und revolutionäre Geschichte des Befreiungskampfes der kurdischen Frauen. Die läuft oft Gefahr, unsichtbar gemacht zu werden, weil sie eben nicht männlich, staatlich, eurozentrisch ist und deshalb in dementsprechenden Kategorien gar nicht gedacht werden kann.„Jin, Jiyan, Azadi“: Am Internationalen Frauentag, oder feministischen Kampftag, ertönt diese Parole an vielen Orten. Es rufen sie die sogenannten Samstagsmütter in der Türkei, es rufen sie Frauen in Rojava, der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien, oder im selbstorganisierten Geflüchtetencamp Mexmûr im Irak. Es rufen sie Frauen im Iran, in dem die Revolte nicht aufhören will. Woher kommt dieser Ruf? Er hat seinen ideologischen Ursprung in der kurdischen Freiheitsbewegung. Abdullah Öcalan, der inhaftierte Führer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), der seit 1999 in einem türkischen Gefängnis in Einzelhaft sitzt, ist einer seiner Vordenker:innen. Der Ruf meint das universelle Ziel der kurdischen Bewegung: die Freiheit des Lebens durch eine Revolution der Frauen.Es mag viele verwundern, dass ein Freiheitskampf eines Volkes universelle Gültigkeit für andere Völker und Gruppen entfalten kann. Aber wenn man sich etwas näher mit der Geschichte dieses Volkes auseinandersetzt, ist es wenig überraschend. Die Notwendigkeit für eine solch radikale, maximal intersektionale Bewegung, die auf den Prinzipien „Jin, Jiyan, Azadi“ basiert, zeigt sich aufgrund der vielschichtigen Unterdrückung und strukturellen Gewalt, die kurdische Frauen erfahren haben und erfahren: gerade weil sie Kurdinnen und weil sie Frauen sind.Nach dem Fall des Osmanischen Reiches wurde das historische Kurdistan zwischen vier verschiedenen Staaten aufgeteilt: der Türkei, dem Irak, Syrien und dem Iran. In jedem dieser Staaten leiden kurdische Frauen bis heute nicht nur unter ethnischer und sozioökonomischer Diskriminierung, sondern auch als Frauen unter den patriarchalischen Strukturen dieser Staaten. Gleichzeitig werden sie innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaften unterdrückt. Der Fokus auf ihre Identität als kurdische Frauen ist unmittelbar mit der Gewalt um diese Mehrfachmarginalisierung verbunden. Das ist der Bezugspunkt für die kurdische Frauenbewegung: dass es verschiedene hierarchische Mechanismen und Schichten der Unterdrückung gibt und dass Frauen sich nicht befreien können, solange sie sich nicht von ihnen allen befreien. Es geht also nicht primär nur um die Befreiung Kurdistans von der Unterdrückung durch andere Staaten oder um die Befreiung der Frau vom Mann. Der kurdischen Frauenbewegung geht es vielmehr um die Dekolonisierung des Lebens, solange die Frau symbolisch als „erste Kolonie“ von allen anderen Formen von Herrschaft und Gewalt eingeschränkt wird, die die Identitätsvielfalt und zwischenmenschlichen Beziehungen bis ins Intimste prägen.Die Frau als erste KolonieDaher lässt sich der kurdische Ruf nach Leben, Demokratie und Freiheit gegenüber dem Patriarchat so leicht universalisieren. Im Jahr 2013 wurde die erste Nahost-Frauenkonferenz in Amed/Diyarbakır initiiert, einer Stadt im Südosten der Türkei. Frauen aus der gesamten Region, von Nordafrika bis Pakistan, wurden eingeladen, um überregionale Solidaritätsnetzwerke aufzubauen. Darüber hinaus hat die kurdische Frauenfreiheitsbewegung einen eigenständigen Ansatz von Gesellschaftsanalyse, die Jineolojî, entwickelt. Zu ihrer Praxis gehören unter anderem die Kritik und das Weiterdenken von bestehenden feministischen Theorien weltweit. Ja, der liberale Feminismus wird hier kritisiert. Denn die kurdische Frauenbewegung steht ihm entgegen. Wie denn auch nicht. Eines der Flugzeuge, die die Dörfer von kurdischen Alevit:innen 1937/38 in Dersim/Tunceli bombardierten, steuerte „Gründervater“ Kemal Mustafa Atatürks Tochter Sabiha Gökçen, die weltweit erste Kampfpilotin, nach der unzählige Straßen in der Türkei und einer der beiden Großflughäfen in Istanbul benannt ist. Bis zu 70.000 Menschen kamen bei diesem Massaker ums Leben.Im Jahr 2022 schmücken sich deutsche Politiker:innen mit „Jin, Jiyan, Azadi“ auf T-Shirts und Plakaten. Auf ihnen steht teilweise „Solidarität mit den iranischen Frauen“, was den Kampf der kurdischen Frauen aufs Neue unsichtbar macht. Ganz zu schweigen davon, dass parallel zur selben Zeit die kurdische Freiheitsbewegung, der Ursprung der Parole, in Deutschland nach wie vor kriminalisiert wird.Während der liberale Feminismus an Konzepte wie die „feministische Außenpolitik“ (in einem globalen System, das auf Ausbeutung, Imperialismus und Rassismus aufgebaut ist) glaubt oder individuelle Aufsteigerinnen als feministische Vorbilder feiert, macht die kurdische Frauenbewegung darauf aufmerksam, dass – etwas vereinfacht – das Leben nur dann frei ist, wenn jede Frau und jede Gruppe von jeglicher Unterdrückung und Gewalt frei ist.Dass die Geschichte der kurdischen Frauenbewegung so selten erzählt wird, hat viel damit zu tun, dass wir daran gewöhnt wurden und sind, die Welt durch die Brille von Nationalstaaten und Nationalismus zu lesen. Erst wenn die Frauen des Iran aufbegehren, wird sie erzählt. Erst wenn die kurdischen Frauen in Syrien zur Waffe greifen, wird sie erzählt. Erst wenn eine kurdische Frau in Kurdistan-Irak oder in Frankreich auf offener Straße ermordet wird, wird sie erzählt. Wenn wir die kurdische Frauenbewegung und ihre universellen Ziele verstehen möchten, gar von ihr lernen wollen, müssen wir uns endlich vom nationalen Denken lösen.Die kurdische Frauenbewegung zielt nicht darauf ab, ihren Slogan zu monopolisieren, sondern vielmehr darauf, ihn im Kampf für ein freies Leben weltweit zu universalisieren. Eine Revolution braucht Zeit und ihre Unterstützer:innen gemeinsame Werte. Der Ruf „Jin, Jiyan, Azadi“ („Frau, Leben, Freiheit“) sollte dabei jedoch seine Wurzeln nicht vergessen. Und die Bewegung, der er seine Kraft verdankt.Placeholder authorbio-1