Alltag in den Anden mit süßem Schwein

DOKUMENTARFILME FÜR KINDER Das Interesse der Kinder ist größer als das Angebot vermuten lässt, gewünscht wird weniger "pädagogisch wertvolles", sondern mehr ästhetische Seh-Erziehung

Neben der Debatte um die politischen Konsequenzen aus den Anschlägen in den USA wurden in den letzten Tagen immer wieder auch die Fragen gestellt, was und wie viel die Kinder vertragen können von den gesehenen Bildern und von der dahinter stehenden Realität. Psychologen geben da Ratschläge an Eltern. Aber auch die Kinder selbst melden sich zu Wort. Natürlich sind sie traurig und schockiert. Ja, für die Generation der jetzt Heranwachsenden dürfte die gewaltsame Beendigung kindlichen Allmachtsglaubens lebensprägend sein. Doch neugierig sind sie auch. Deutlich äußern sie ihren Anspruch auf Mitwissen um das, was auf dieser Welt geschieht, sei es auch noch so brutal. Schließlich wollen, ja müssen auch sie mitreden können über eine Welt, die ihre Zukunft ist.

Auch bei einem Symposium, das sich letztes Wochenende in Köln mit dem Thema "Dokumentarfilme für Kinder" beschäftigte, kamen neben vielen erwachsenen Filmemachern und Experten die Kinder selbst zu Wort. Auch die vier Mädchen und Jungen zwischen zwölf und dreizehn Jahren waren sich bei allen Differenzen in diesem Punkt einig: Kinder haben ein Interesse daran und ein Anrecht darauf, die Wirklichkeit zu erfahren. Und sie sind sie keineswegs bloß naive Zuschauer, sondern durchaus imstande, Entstehungs- und Wirkungs-Kontexte des Präsentierten mitzudenken: "Die wollen, dass wir auch einmal sehen, wie andere Kinder leben, wo es vielleicht nicht ganz so aufgemöbelt aussieht", hieß es zu einem Film, der ein Mädchen aus einer Dubliner Vorstadt porträtiert.

Sicher, die vier, allesamt mediengebildet und schlau, sind nicht repräsentativ. Und statistische Auswertungen, die die Fernsehforscher Klaus Rummler und Clemens Lambrecht von der Uni Kassel am real existierenden Fernsehverhalten von Kindern betrieben haben (www.kinderfernsehforschung.de), scheinen andere Präferenzen zu beschreiben. Hier stehen Trickfilme und Vorabendserien in der Gunst ganz vorne, das einzige Non-Fiction-Programm unter den Top Ten taucht bei den zehn- bis dreizehnjährigen Mädchen auf den hinteren Rängen auf: Explosiv.

Das scheint ein Widerspruch. Doch messen lässt sich nur, was es gibt. Non-Fiction für Kinder ist aber im deutschen Fernsehen, wenn man einmal von den Viereinhalb-Minuten-Einspielern in diversen Magazin-Sendungen absieht, praktisch nicht vorhanden. Und im Kino sieht es noch kärglicher aus: Praktisch Null. Natürlich hat diese Enthaltsamkeit Gründe. Neben den Vorurteilen darüber, was Kinder gerne sehen, liegen die mal wieder beim guten Geld, den fehlenden Vermarktungsmöglichkeiten. Wer einen Kinderdokfilm produziere, müsse selbstmörderische Absichten habe, behauptet gar Thomas Hailer vom Kuratorium Junger Deutscher Film. Also landen nicht mal auf den Schreibtischen der Fördergremien entsprechende Projekte. Und der eigentlich zuständige Kinderkanal hat kein Budget, um selber zu produzieren.

Dass es auch anders gehen kann, zeigt das "Kinderdokumentarfilmparadies" Dänemark, wo es eine eigene Förderungsstelle für Dokumentarfilme für Kinder gibt und ein Viertel des jährlichen Filmförderetats für Kinderfilme reserviert ist. In den Niederlanden existiert seit einigen Jahren ein Projekt, das Kinder zu eigenen Story-Ideen aufruft und sie dann mit professionellen Drehbuchautoren und Filmemachern zusammenbringt. Dem Ergebnis ist die Ausstrahlung im Fernsehen garantiert.

Doch auch bei uns gibt es Ausnahmen. Man muss nicht bis zu Uwe Kersken gehen, der seine aufwändigen TV-Serien über Delphine, Vampire und andere Fabeltiere in multinationalen Koproduktionen vorfinanziert: Guido Knopp fürs Familienprogramm. Interessanter ist da etwa ein Film wie Antje Starosts Chaupi Mundi - Das Ende der Welt, der seit fast zehn Jahren mit seiner Regisseurin beharrlich durch Schulen und kommunale Spielstätten tingelt und sich dabei ein beachtliches Publikum eingesammelt hat. Chaupi Mundi erzählt vom Alltag in den bolivianischen Anden - und einem süßen Schwein.

Die Grenzen zwischen Fiktionalem und Nicht-Fiktion sind im Kinderfilm weniger streng gezogen. Doch das Themenspektrum vieler für Kinder gemachter Filme scheint im Gesamtblick recht stark von pädagogischen Erwägungen dominiert: Armut, Behinderungen, Tiere und fremde Länder. Erfrischend, weil ganz anders, ist da die Doku-Soap Die Schiller-Gang, die sich eher überraschend zu einem Hit unter Teenagern entwickelte. Regisseurin Petra Seeger hatte die sechsteilige Serie über ihre Tochter und deren Freundinnen nämlich eigentlich für ein Publikum der Mütter-Altersklasse gedacht. Die interessierte das weniger, dafür entwickelte sich die im Mai im Spätabendprogramm des WDR ausgestrahlte Doku-Soap zu einem Renner bei Jugendlichen mit Live-Chat und allem was dazugehört. Jetzt wird die Serie im Oktober im NDR nachmittags wiederholt. Doku-Soaps für Kinder: In diese Richtung ließe sich gut weiterdenken. Und auch die Möglichkeiten der Schulen könnten gezielter für den Dokumentarfilm eingesetzt werden. Nur eine Zwangsbefilmung mit "pädagogisch Wertvollem" darf daraus nicht werden, statt dessen ästhetische Seh-Erziehung. Aber da müsste man wohl bei den Lehrern anfangen.

Kinder sehen themenorientiert, doch sie haben durchaus ein Bewusstsein für Form. Wenn Langeweile beim Zuschauen geäußert wird, hat die ihre Ursache meistens nicht in den Inhalten, sondern in unnötigen Verdeutlichungen, die das Gezeigte kindgerechter machen sollen. Ein zehnjähriger Zuschauer hat bei einem Film, der einen kleinen Jungen zeigt, der alte Menschen nach ihren Lebensrealitäten, -träumen und -enttäuschungen befragt, vor allem bemängelt, dass man durch das Voice-Over die eigentlichen Stimmen der alten Menschen nicht hören kann. Kinder sind sensible und kluge Zuschauer, sensibler als viele medienabgestumpfte Erwachsene es noch sein können. Es ist höchste Zeit, dass sie als Zuschauer ernst genommen werden.

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