Die Regeln des Realen

Einladung zum Zeitverlieren Dokumentarfilme auf den "Visions du réel" in Nyons suchen die Befreiung aus eingefahrenen Mustern

Promenades des Alpes, Passage du Pirates, Place Bel-Air - auf den ersten Blick scheint sich im westschweizerischen Nyon die Zeit in mittelalterlichem Mauerwerk und blassblauen Glyzinienranken zu verlieren. Doch der Schein zeitlosen Stillstands trügt. Gleich unter der Promenade des Vielles Murailles nämlich, zwischen Schloss und dem Ufer des Lac Leman, haben sich die Bagger tief in den Boden gegraben. Wo letztes Jahr noch eine Gemeindewiese wild wucherte, soll im Mai ein dreistöckiges Parkhaus eröffnet werden, später - wir sind in der Schweiz - unter einer adretten Grünanlage versteckt. Auch der große Parkplatz in der Oberstadt war früher eine Lustwiese, was vielleicht den schönen Namen erklärt: Place Perdtemps, Platz des Zeitverlusts.

Kontrapunktisch passend also, dass man sich nebenan in der Salle Communale einmal im Jahr mit den Visions du réel jener Kunst widmet, die sich programmatisch als Gegenentwurf zu Zeit- und Gedächtnisverlust versteht. Denn Dokumentarfilm besteht im Gegensatz zu den Endlosschleifen des medialen Rauschens immer auf dem unwiederbringlichen Moment. Er will das Leben nicht ersetzen, sondern verdichten, Erfahrungen nicht übertuschen, sondern erforschen. Emphatisch formuliert das der kanadische Nyon-Stammgast Mike Hoolboom in Fasci(nation), der die Entwicklung des Fernsehens in den USA in den Kontext der Atombombenabwürfe auf Japan und der Verdrängung dieser Kriegsverbrechen stellt. Hoolbooms anregender, doch auch etwas prätentiöser Experimentalbarock war einer von fünfzehn Filmen im Wettbewerb, die fast alle auch von der gefährdeten kulturellen Vielfalt der Welt künden. Promised Paradise von Leonard Retel Helmrich (Indonesien) beginnt mit einem ebenso komischen wie bissigen Angriff auf das offizielle Medieneinerlei: Ein Puppenspieler in Djakarta hat seine Bühne zu einem Fernsehkasten umgebaut, in dem er mit Hilfe von Pappschachteln den Angriff vom 11.9. nachstellt und so die Absurdität medialer Wirklichkeitsansprüche thematisiert. Euer Fernsehen zu Hause ist bloße Imitation, sagt er, schaut hinein. Das hier ist dreidimensionales Reality-TV, hier sitzen wirkliche Leute aus Fleisch und Blut. Später trifft er den Attentäter von Bali zu einem fiktiven Interview, das aus Sequenzen einer auf Straßenmärkten kursierenden DVD zusammenmontiert ist: Eingreifende Recherchen in einem politisch und religiös aufgewühlten Land, dessen Widersprüchlichkeit sich in diesem Film westlichen Vereinfachungen auf erhellende Art entzieht.

Eigensinnige Ansätze wie diesen gab es einige in einem Programm, das sich nicht fürchtet, gewohntes Terrain zu verlassen. So wurde dieses Jahr mit den Fictions du réel erstmals auch eine eigene Programmreihe Spielfilmen gewidmet, die mit "dokumentarischen Methoden" arbeiten. Eine schöne Idee. Denn immer mehr Filmemacher versuchen, ihre Bilder des Wirklichen aus den eingefahrenen dokumentarischen Mustern zu befreien. Die berüchtigten "talking heads" schienen in Nyon ebenso ausgestorben wie das naive Cinema Direct. So beziehen die meisten Filme mittlerweile selbstverständlich die eigene Autorenposition in das filmische Setting ein. Und die vielen home-movie-angehauchten Familienfilme bewegten sich jenseits wohlbekannter Larmoyanz auf höchst reflektiertem Niveau. So wirft der Wiener Arash in Exile Family Movie einen liebevoll ironischen Blick auf seine durch die politische Gewaltlage aus dem Iran in alle Welt verstreute Großfamilie, die eine Pilgerfahrt nach Mekka zum Vorwand für ein großes Familientreffen nutzt. Dabei ist er selbst ebenso sichtbarer Teil der Unternehmung wie Strippenzieher im Hintergrund, der uns aber hier und dort spielerisch in die Regeln des Filmemachens einweiht.

In Thomas Heises Jugendlichen-Porträt Im Glück (Neger) ist der Filmautor als Regisseur eingestreuter Theaterszenen immer wieder präsent. Am Ende wird die implizite Hierarchie auch bei diesem Projekt sympathisierenden Erzählens von einem der Protagonisten direkt in die Kamera gesprochen: Er verliest einen Brief, der Misstrauen gegenüber Heises Filmprojekt ausdrückt. Berechtigtes Misstrauen, denn Filmheld und Regisseur sind offensichtlich auch privat befreundet, stehen aber in deutlicher intellektueller und sozialer Differenz. Vielleicht ist es die Unsicherheit, sich auf solch gefährlichem Terrain zu bewegen, die Heises Film so fragmentarisch und hermetisch werden ließ wie sein Titel; und so die Vermittlung zu einem Publikum gefährdet, das damit beschäftigt ist, die fehlenden Kontexte zu suchen. So bleiben einzelne starke Szenen, und Bewunderung für den Mut, mit dem sich Heise seiner Aufgabe stellt.

Theater gibt es auch in Andres Veiels Der Kick, der in Nyon den Hauptpreis gewann. Während bei Heise Berliner Jugendliche Texte von Lautréamont und Heiner Müller sprechen, sind es bei Veiel zwei Schauspieler, die - unter anderem - die Aussagen Brandenburger Jugendlicher interpretieren. Veiels Thema ist das als Mord von Potzlow in der Öffentlichkeit bekannte Verbrechen, bei dem drei Jungen einen Bekannten mehrere Stunden lang quälten und dann in einem Schweinestall erschlugen. Vermisst wurde der ermordete Marinus nie richtig, gefunden erst Monate später. Dabei war die theatralisch distanzierte Methode des Films zuerst der Not geschuldet, wurde dann aber vom Regisseur als adäquates ästhetisches Mittel adaptiert: Es gelang Veiel nicht, die am Mord Beteiligten zu einem Filmauftritt zu bewegen, zum Gespräch waren einige aber schon bereit. Das so gewonnene Material hat der Regisseur dann zu einem dokumentarischen Theaterstück verarbeitet, das auch Grundlage des Films ist. Spielort ist ein Fabrikhalle, die beiden Schauspieler spielen die etwa 20 Rollen mit leicht karikaturistischer Übertreibung. So wird die textliche Abstraktion wieder mit konkreten Details aufgeladen. Doch was im Theater vermutlich Sinn macht, zielt auf der Leinwand durch allzu große Anschaulichkeit knapp daneben. Außerdem verschmelzen die einzelnen Stimmen - erst recht in der Erinnerung - durch die personelle Bündelung zu einem allzu undifferenzierten Chor. Schon am nächsten Tag würde man am liebsten alles noch einmal schriftlich nachlesen.

Mit Anat Evens Prelimenaries ging auch der zweite Preis in Nyon an einen Film, der sich einer literarischen Form bedient, sie aber mit komplexen filmischen Bildkompositionen konfrontiert. Die Regisseurin lässt den israelischen Dichter S. Yizhar eine Erzählung vortragen, die von der Fremdheit der neuen Siedler in ihrem eigenen Land erzählt. Dazu projiziert sie Archivbilder von der ursprünglichen zionistischen Landnahme und ihren idealistischen Apologeten und Aufnahmen der aktuellen spätindustriell geprägten Land(wirt)schaft. Das einprägsamste Bild: Maskierte (thailändische) Arbeiter, die in der Wüste vorgefertigte Grasplatten auslegen. Israelische Vergangenheitsvergegenwärtigung, die produktiv aber auch auf kolonial-imperialistische Geschichte anderswo greift. Leider, auch das muss erwähnt werden, technisch in blasser Videoqualität.


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