Wenn es ums Fernsehprogramm geht, meint jeder, kompetent mitreden zu können, schließlich sitzt man ja selbst oft genug vor der Kiste. Fürs gepflegte Kneipengespräch reicht das so erworbene Wissen zwar aus, vor subjektiven Verzerrungen ist es aber kaum geschützt. Der Dokumentarfilm zum Beispiel: Ergeht er sich nach Reality-Boom und der neuen Lust am Authentischen in ungeahnten Höhenflügen? Oder haben die Dokumentarfilmer Recht, die seit Jahren den unaufhaltsamen Verlust von Sendeplätzen beklagen?
Solchen Unsicherheiten will eine kürzlich bei der nordrhein-westfälischen Landesanstalt für Medien erschienene Expertise des Medienjournalisten Fritz Wolf abhelfen, die ganz empirisch die Präsenz dokumentarischer Programme im Fernsehen unt
nsehen untersucht. Einen Monat lang - den Oktober 2002 - hat Wolf das deutsche Fernsehprogramm aufgezeichnet und ausgewertet, dazu noch ausführliche Interviews mit Programmplanern und Machern geführt. Fazit: Quantitativ ist Dokumentarisches im Fernsehen mit eintausend Programmstunden im Monat durchaus präsent, wenn auch sehr ungleichmäßig verteilt und meist in kleiner Form. Qualitativ ist neben dieser Abkehr vom "großen Einzelstück" auffällig eine Tendenz zur zunehmenden Formatisierung: Das Markenetikett soll davor schützen, im Programm-Dschungel unterzugehen. Dabei wächst auch das unterhaltende Element: Re-Inszenierung und Dramatisierung sind Hilfsmittel, ohne die kaum eine Doku noch auskommt, hybride Mischformen wie Doku-Drama und Doku-Soap nehmen zu.Unter dem Titel Schema F? Dokumentarische Formate im Fernsehen fand jetzt in Köln ein Symposium statt, das den Versuch unternahm, Wolfs Befunde im Gespräch zwischen Autoren, Produzenten und Programmplanern nach dem Wie und Wohin für die Zukunft zu befragen. Organisiert war die Veranstaltung von der Dokumentarfilminitiative Nordrhein-Westfalen, Mitveranstalter waren das Stuttgarter Haus des Dokumentarfilms und die in Köln ansässige SK Stiftung Kultur. Im stark frequentierten Auditorium saßen vor allem jetzige und zukünftige Autoren, auf den Podien außerdem Produzenten und Vertreter der Redaktionen, die das Fernsehprogramm regelmäßig mit Doku-Ware bestücken, neben ARTE, ARD und ZDF als einziger Privatsender auch RTL 2, der, wie es der stellvertretende Unterhaltungs-Leiter Marc Rasmus beschrieb, seit zwei Jahren "Erotik und Dosenbier" gegen Babies (Schnulleralarm) und Heimwerker eingetauscht habe - eigentlich ja konsequent.Was bedeutet die Formatierung für Autorenschaft und eigenständige Filmsprache? Wie entwickeln sich die Machtverhältnisse im "Bermudadreick zwischen Redaktion, Produzenten und Autoren" (Wolf)? Fragen, die in Köln an den gegenwärtig wichtigsten dokumentarischen Formaten durchdekliniert wurden, wobei die diesen zugemessene Bedeutung sich mehr an traditionellen Wertsetzungen als an der aktuellen Programmpräsenz maß. Das heißt, dass Reise- und Tierfilme, die derzeit immerhin 40 Prozent des dokumentarischen Programmanteils ausmachen, ebenso ausgeklammert blieben wie der größte Teil dessen, was neuerdings bei den Privaten produziert wird. Eine sicherlich legitime Verkürzung der Sichtweise, die allerdings zu perspektivischen Verzerrungen führen kann.Der oben angesprochener Auftritt von Rasmus jedenfalls brachte einen erheiternden Höhepunkt, da dieser die von Arte in Köln voraufgeführte Doku-Soap Samba für Singles kurzerhand als Format deklarierte, das genau so gut auch bei ihm hätte produziert werden können. Außerdem hätte sein Sender die Doku-Soap ureigentlich erfunden. Eine Aussage, die nicht nur zu einer Inflation weiterer Urheberansprüche führen sollte (bei der objektiv am Ende wohl der WDR mit den Fußbroichs gewinnt), sondern auch das Statement von Rasmus´ WDR-Kollegen Rolf Bringmann provozierte, es bei der Konzeption der Serie genau auf diese Konkurrenz angelegt zu haben.Die Unterschiede im Detail sind nichtsdestotrotz unübersehbar. Überhaupt ist es das Spiel von Ausdifferenzierung und Reduktion, dass bei den vorgeführten Formaten ebenso fasziniert wie erschreckt. Die Spanne ist enorm: Vom "schmutzigen" Hard-Core-Report mit Wackelkamera bei investigativen Formaten wie die story (WDR) oder betrifft (SWR) bis zu den samt Zeitzeugen-Hintergrund durchformatierten Bio-Pics der ARD-Legenden. Andererseits ist auffällig, wie sehr sich bestimmte formative Vorgaben überschneiden. So arbeiten auch investigative Formate massiv mit personalisierenden Elementen. Biografische Sendeplätze wie 37° (ZDF) oder Lebenslinien (BR) kommen um das Geschichten erzählen nicht herum. Aber selbst historische Dokumentationen setzen mittlerweile heftige Emotionalisierungen ein, wie die Alexandria-Folge der ZDF-Hochglanz-Formats Metropolis vorführte, die sich an einem narrativen Plot entlangschlängelt, der eine angeblich wahre Geschichte ins Holz einer campigen Sandalen-Soap schnitzt. Auch hier soll Emotion Authentizität erzeugen: Menschen, die über sich hinauswachsen, formatübergreifend: Der Bedarf nach solcher Lebenshilfe ist wohl unersättlich, ein Suchtverhalten, das vom Fernsehen ebenso geschürt wie bedient wird.So ist die Frage nach der Zukunft des Dokumentarischen im Fernsehen auch eine nach den Möglichkeiten der Verweigerung solcher Zurichtungen. Dass es dabei nicht unbedingt klug ist, Autoren neben ihren Redakteuren auf dem Podium zu platzieren, hätte den Veranstaltern eigentlich bewusst sein müssen: Wer jemals das Ringen eigenwilliger Fernsehautoren mit den Redaktionen um Details von Inhalt und Filmsprache mitbekommen hat, dürfte leicht fassungslos sein ob der Einmut, mit der hier harmonische Zusammenarbeit beschworen wurde. Entweder trauten die sich schlicht nicht. Oder die Formatisierung besetzt die Köpfe aller Beteiligten mittlerweile schon so umfassend, dass der Tunnelblick nichts anderes mehr sieht und die ästhetischen Beschränkungen als Sachzwänge erscheinen lässt. Einer dieser Zwänge ist natürlich die Quote, die auch im Öffentlich-rechtlichen längst diktiert. Doch was nicht ist, ist auch nicht messbar. Und hat die aus dem Auditorium vorgebrachte "dunkle Macht des Nicht-Gesendeten" nicht doch ihre blitzhelle materielle Realität? Stoßen unangepasste Autoren in den Redaktionen auf ebensolches Unverständnis wie manche kritische Frage hier? Denn bei aller postulierten Kooperationsbereitschaft bleibt im Anblick der Endprodukte doch der Eindruck zurück, diese Offenheit sei mehr der Rhetorik geschuldet als Ausdruck konkreter Praxis. Eine Ausnahme machte hier Ulrike Schweitzer vom WDR, die für Menschen hautnah verantwortlich zeichnet, ein biografisches Format, das auch einmal den kommentarlosen Blick riskiert. Schweitzer war es auch, die die Frage nach den Inhalten aufwarf, die bei aller Aufgeschlossenheit in den bestehenden Formaten "durch den Rost" fallen, ein "Drittes" jenseits von spannender Spurensuche und Menschelei. Eine Frage, die von Tagungsleiterin Petra Schmitz mehrfach aufgegriffen wurde, doch bei den Damen und Herren vom Fernsehen auf verschlossene Ohren stieß. Viele von denen versuchen sicher tapfer, an ihrem Ort aus dem Möglichen das Beste zu machen. Doch ohne ein bisschen vorauseilenden Ungehorsam läuft der Fernsehhase den existierenden Formatvorgaben immer nur hinterher.
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