Heiraten? Vermutlich nicht. Kinder ja, die möchte ich haben« Sabine K. aus Hamburg kann ihr Leben nicht vorausahnen, aber sie kann es zumindest in groben Zügen bestimmen. Die 33-Jährige weiß genau, was sie will, und das nimmt sie sich. Ihr Leben wird anders verlaufen als das ihrer Mutter, die mit 19 Jahren den Mann heiratete, den sie erst wenige Wochen kannte, und von dem sie nach kurzer Zeit schwanger wurde.
Damals - Ende der Sechziger - blieb der Sekretärin nichts anderes übrig, als den Mann zu ehelichen, von dem sie ein Kind erwartete, wollte sie nicht die Empörung ihres Umfels erregen. Es galt ein eng begrenzter Moralkodex: Zu einem Kind gehört ein Vater, auch wenn es der Falsche zu sein scheint. Geheiratet wird auf jeden Fall. Nur so ist eine Familie eine richtige Familie. In Ost und West. Erst später entwickelte sich in der DDR mit der regulären Frauenerwerbsarbeit ein anderes weibliches Selbstbewusstsein. Eines, das Frauen »erlaubte«, eigene Entscheidungen zu treffen.
Heute sieht die partnerschaftliche Realität sehr viel unüberschaubarer und quirliger aus. Neben der Ehe existiert die sogenannte eheähnliche Gemeinschaft, es gibt Paare, die zusammen sind, aber bewusst getrennt leben, selbst mit Kindern, es gibt Liebhaber und Geliebte, Beziehungen, die sich vor allem auf körperlicher Anziehung gründen, Alleinerziehende, Wohngemeinschaften, soziale Partnerschaften, die ganz ohne Sex auskommen. Es gibt Dreierkonstellationen, Fernbeziehungen und Liebe auf Distanz, die die seelische Entfernung meint, oder auch Promiskuität. Inzwischen »dürfen« nicht nur Männer jüngere Frauen lieben, sondern auch Frauen jüngere Männer. Manche dieser Verbindungen halten über Jahre, andere erweisen sich als »Übergangsmodelle«.
All diese Partnerschaftsversuche gab es auch schon vor fünfzig oder sechzig Jahren, sie sind mitnichten neu. Aber sie wurden nie so selbstverständlich und »normal« gelebt wie von den heute 30- bis 40-Jährigen. Diese Generation hat an ihren Eltern gesehen, wie verkrampft der Umgang miteinander war, wenn man sich besser getrennt hätte, es aber aus konventionellen (und finanziellen) Gründen nicht wagte. Oder die Kinder haben erlebt, wie sich ihre Eltern scheiden ließen und litten heftig darunter, weil die Trennung ein Terrorakt war. Und nicht wenige Kinder haben mitbekommen, wie Liebschaften geheim gehalten werden mussten. So lernten sie frühzeitig, was es heißt zu lügen, und wie man es besten anstellt.
Ein Großteil der heute 30- und 40-Jährigen probiert sich daher in »alternativen« Beziehungsmodellen aus und die meisten scheinen sich auch darin wohl zu fühlen. »Ich brauche keinen Mann, um mit ihm zusammen zu leben«, sagt Christiane F., Heilpraktikerin in Schwerin und alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. »Seit etwa zwei Jahren möchte ich überhaupt nicht mehr mit jemandem im klassischen Sinne zusammen wohnen - außer mit meinen Kindern. Ich genieße das Alleinsein und möchte nicht jeden Schritt begründen, den ich tue: Warum gehe ich in die Küche oder in dieses Zimmer. Warum schalte ich den Fernseher ein.« Die 32-Jährige kennt eine enge Beziehung - die zum Vater ihrer Kinder. Mit ihm hat sie einige Jahre in einer Wohnung gelebt. Sie kennt aber auch das Gefühl, gleichzeitig einen Mann und einen Liebhaber zu haben. Und sie weiß heute, welche Vorteile ein Leben allein haben kann. »Ich möchte keinen Sex, nur weil ich mit einem Mann zusammen lebe. Viele Beziehungen funktionieren genau nach diesem Prinzip. Das stumpft ab.«
Max Paul K. lebt anders. Er führt eine soziale Beziehung zu einer Frau, mit der ihn keine körperliche Nähe verbindet. Der 36-jährige Industriedesigner aus Berlin und seine »Partnerin«, eine bekannte Fernsehschauspielerin, führen praktisch eine Ehe ohne Sex. Beide haben jeweils ein Kind, beide sind von ihren früheren Partnern getrennt. Max Paul K. und seine »Frau« lernten sich auf dem Spielplatz kennen und merkten, dass sie gut zusammen passen. Also beschlossen sie, eine Familie im weitesten Sinne zu werden. »Wir sind immer füreinander da, in - wie man so schön sagt - guten und in schlechten Zeiten«, so der junge Mann. Die »Familie« fährt gemeinsam in den Urlaub und verbringt die Wochenenden miteinander. Die beiden Erwachsenen kochen füreinander und wechseln sich mit der Kinderbetreuung ab. Er holt sie aus dem Krankenhaus ab, sie stellt ihm seinen Lieblingswein auf den Küchentisch. »Wir wollen miteinander alt werden«, sagt Max Paul K. Die Sache mit dem Nicht-Sex sehen beide nicht verkniffen. Schließlich kann man sich sein Sexualleben auch anders organisieren.
Beispielsweise so wie Berit Z. Die Event-Managerin muss rund um die Uhr arbeiten und hat so weder Zeit noch Lust auf Familie und Partnerschaft. Sie strebt auch keine Liebesbeziehung an, von der sie »von vornherein schon weiß«, dass sie sie »irgendwann doch enttäuscht«. Auf Sex und körperliche Nähe will die 36-Jährige trotzdem nicht verzichten. Also suchte sie sich einen Mann, der ebenso lebt, arbeitet und liebt wie sie. Sie fand ihn in ihrem Arbeitsumfeld. Die beiden schlossen ein »Abkommen«: Wenn sie sich sehen - meist an den Wochenenden -, gehört die Zeit ganz allein ihnen beiden. Sie genießen die Zweisamkeit, die dennoch Persönliches außen vor lässt. »Wir kämen nicht auf die Idee, uns innerhalb der Woche anzurufen und zu fragen, ob der andere mit ins Kino geht. Das ist tabu.«
So kalt und berechnend sich diese Art zu lieben für Nichtbetroffene anhören mag, sie macht Sinn im Reigen der verschiedenen Lebensformen. Man muss nicht so leben, aber man kann es, ohne gleich als unmoralisch oder unnormal zu gelten. Der klassischen Zweierbeziehung, die nach wie vor existiert, stehen die alternativen »Modelle« nicht im Wege. Sie steht sich höchstens selbst im Wege, weil die Selbstverwirklichungs- und Vollkommenheitsansprüchean eine Beziehung heute unermesslich hoch sind. Nicht wenige gehen vom Grundsatz aus, der Partner solle zugleich Freund, Kollege, Liebhaber, Ratgeber, Elternersatz und Spaßfaktor sein. Das Problem ist nur, dass eine Person all diese Anforderungen nicht erfüllen kann.
Diejenigen, die eine andere Beziehungskonstellation als die herkömmliche Zweierbeziehung oder die Ehe wählen, folgen dabei nicht nur persönlichen Vorlieben sondern auch beruflichen Erfordernissen. Oftmals lässt das aktuelle Leben die klassische Zweierbeziehung nicht zu, sondern muss nach Alternativen suchen. Zum großen Teil ist die veränderte Arbeitsgesellschaft - neben den Verschiebungen in den Geschlechterverhältnissen - »schuld« an der Vielseitigkeit der heute freieren Liebe.
Karrieren sind heute nicht mehr planbar, so mancher tabellarische Lebenslauf weist berufliche Knicke, Tiefs und Auszeiten auf. Auch das hat zwangsläufig Auswirkungen: Wenn heute anders gearbeitet wird als früher, muss zwangsläufig auch das Privatleben anders eingerichtet werden. Wer übermäßig viel im Büro hockt, fragt sich vielleicht, ob eine Beziehung unter diesen Umständen überhaupt Bestand hat, weil keine Zeit bleibt, miteinander zu reden. Wer ständig pendelt, lehnt vielleicht Kinder ab. Wer sich hingegen mit seinem Partner die Erziehung durch Teilzeitmodelle teilen kann, findet seine Erfüllung sowohl im Privat- als auch im Berufsleben. Andere Paare, die lieber - aus welchen Gründen auch immer - getrennt wohnen würden, werden durch ihre Jobs gezwungen zusammenzuziehen. So wie Petra W. und Manfred P.: »Wir sind rund um die Uhr beschäftigt, wollen auf eine gewisse Nähe aber nicht verzichten. Bevor wir uns nur am Wochenende gesehen hätten, weil wir innerhalb der Woche kaum Zeit haben, zogen wir lieber zusammen und können uns so wenigstens beim späten Abendbrot oder im Bett ein paar Worte sagen.« Ein Grund zum Heiraten ist dies indes für die beiden knapp 40-Jährigen nicht.
Die Generation der heute 30- und 40-Jährigen ist mehr denn je gezwungen, über Alternativen des privaten Glücks nachzudenken. Wie Umfragen immer wieder belegen, steht die Suche nach erfülltem Liebesglück nach wie vor ganz oben auf der Prioritätenliste. Und der Druck, sich seine Sehnsüchte erfüllen zu können, ist stärker geworden. Der berufliche, materielle und sexuelle Leistungswahn, der Anspruch an sich und an eine perfekte Beziehung, lässt so manchen scheitern. Drei Jahre, 167 Tage und zwei Stunden betrage die Lebenserwartung einer heutigen Beziehung, sagt der Schriftsteller Peter Schneider in seinem Roman Paarungen.
Anders als ihre Elterngeneration kalkulieren die 30- bis 40-Jährigen Trennungen und Brüche in ihrem Leben bewusst mit ein, weil sie selbst fast alle schon einmal gescheitert sind - beruflich und/oder privat. Aber dieses Scheitern betrachten sie nicht als Niederlage, sondern als Herausforderung an das Leben. In dieser Hinsicht sind sie ihren Müttern und Vätern um einiges voraus. »Ich muss heute nicht mehr mein Leben lang mit dem Mann zusammen bleiben, den ich einmal mit 23 kennen gelernt habe«, sagt Sabine K. »Ich bin ökonomisch und seelisch unabhängig.« Jochen G., 35-jähriger Theaterwissenschaftler aus Stuttgart, bringt es auf einen einfachen Nenner: »Jeder Lebensabschnitt fordert sein eigenes Beziehungskonstrukt. Und verschiedene Lebensphasen brauchen verschiedene Lebenspartner.« Sich diese auch zu nehmen, ist für die jüngeren Generationen heute so selbstverständlich wie vor fünfzig Jahren die Ehe.
Von Simone Schmollack erschien zuletzt Ich will Leidenschaft. Geschichten von 30-Jährigen über Lust und Liebe, schwarzkopf schwarzkopf, Berlin, 2002
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