Tim Etchells hat neulich einen ziemlich schrecklichen Theaterabend durchlitten. Jetzt sitzt er, immer noch missvergnügt, vor dem Fischauge einer Webcam und berichtet, ihm sei an diesem Abend so fad geworden, dass er angefangen habe, Lampen und Requisiten zu zählen. Wut über die Belanglosigkeit der Inszenierung ging in Menschheitsverzweiflung über. Etliche Kneipenstunden und ein verschwundenes Fahrrad später bestieg Etchells notgedrungen ein Taxi, dessen Fahrer unaufgefordert grundsätzlich wurde und einen langen Monolog über den alles absorbierenden Kapitalismus des 21. Jahrhunderts hielt: „It’s so good at eating everything“.
Als Mitgründer und Vordenker der britischen Performance-Gruppe Forced Entertainment ist Etchells geübt in
Etchells geübt in der Improvisation anspielungsreicher Fortsetzungsgeschichten, die generisch anfangen und dann zuverlässig immer absurdere Abzweigungen nehmen. Die Begegnung mit dem theorieaffinen Taxifahrer endet mit der Übergabe des Automobils und einem Plädoyer für das Theater als öffentliches Medium alternativer Gesellschaftsanalyse.Eigentlich handelt es sich bei dieser Geschichte um eine Videobotschaft, die Etchells der neuen HAU-Leiterin Annemie Vanackere zukommen ließ. Zu finden ist sie auf der wie alles andere renovierten Homepage des Kreuzberger Dreibühnentheaters, das vergangene Woche mit einer ganzen Reihe von Berlin-Premieren hochtourige Neueröffnung feierte. Überall roch es noch nach Farbe. Vanackere scheint ihre Position auch von der pragmatischen Seite her zu verstehen und hat erstmal in Innenarchitektur und Infrastruktur investiert. In gewisser Weise ist sie ja als Konsolidiererin bestellt worden.Auf der MatteDie zuletzt an der Rotterdamer Schouwburg tätige Vanackere tritt die Nachfolge von Matthias Lilienthal an, dem Klaus Wowereit mit einer routinierten Standortpolitikrede nochmals nachtrauerte. Der neuen Quasi-Intendantin schrieb er ins Premierenbuch, dass Kultur Berlins Kapital und volle Auslastung der Zuschauerkapazitäten erwünscht sei. Das Publikum nahm Wowereits formelhafte Ansprache als Standup-Comedy, was dieser offenbar immer noch nicht gewohnt ist („Warum lachen Sie denn?“).Tim Etchells wiederum, der dem HAU in den letzten Jahren verschiedentlich mit ironisch-epischen „Durational Performances“ wie And on the Thousandth Night grandiose Gastspielabende beschert hatte, war nur indirekt mit einer eigenen Arbeit vertreten – als künstlerischer Berater des jungen Amsterdamer Theaterkollektivs Schwalbe.Für deren Performance Schwalbe spielt falsch ist in der Studiobühne des HAU 3 eine Turnmatte mit Spielfeldmarkierung ausgebreitet. Links und rechts stehen Körbe, die an deformierte Eishockeytore erinnern. Performer und Performerinnen treten auf, ziehen sich an. Eine von ihnen stellt die Gruppe höflich vor und singt mit klarer Kirchenchorstimme ein schönes französisches Trinklied: „Ami tout tourne, tourne, tourne, tourne“. Dann werden zwei Teams gewählt und das falsche Spiel gibt sich als rabiate Ausziehübung zu erkennen, bei der sich die Teilnehmer mit zunehmender Heftigkeit die Kleider vom Leib reißen.Wer keine mehr hat, scheidet aus. Eroberte Stofffetzen gilt es im Korb unterzubringen. Als Verausgabungsdarstellung formuliert der sich ständig neu- und umformende Kollektivkörper eine rohe Choreografie steigender Aggressivität. Am Ende der komplett nonverbalen Eskalation sehen alle zerzaust und ramponiert aus, das unschuldig klingende Lied wird nochmals vorgetragen und eine Performerin weist darauf hin, dass etwaige Diskursbedürfnisse ins individuelle Publikumsgespräch outgesourct worden seien. Die Gruppe stehe auf der Matte bereit, man könne doch über alles reden. Weitergehenden Gesprächsbedarf gibt es hier aber eigentlich nicht; es kann ja nur um die unmittelbare physische Präsenzerfahrung unterschiedlicher Knäulzustände gegangen sein.Auch nicht vertiefend sprechen muss man über die deutlich weniger interessante Inszenierung Vision out of nothing der Rotterdamer Gruppe Wunderbaum. Deren Mitglieder haben auf den Straßen Berlins willkürlich Passanten angesprochen und nach ihrer Idee eines neuen Theaters gefragt. Die meisten scheinen generell Musicals gut zu finden. Einer spricht davon, wie schön Tauchen in Ägypten sei. Ein anderer wünscht sich die österreichische Nationalhymne. Die per Videoprojektion eingespeisten Rückmeldungen der Normalbürger werden dann von Wunderbaum per Nachstellung auf der Bühne installiert, meist mit einem etwas herablassenden Unterton, was eine Abfolge mäßig inspirierter Nummern ergibt, in denen auch vage von Gentrifizierung die Rede ist.Im TaxiWäre man Etchells, hätte man wohl angefangen, die Requisiten zu zählen. Völlig unannehmbar ist diese „Vision“ gleichwohl nicht und hinterher hört man verschiedentlich, dass Lilienthals Durchlauferhitzerprinzip ja auch zum Ziel hatte, Missgriffe einfach wegzuinflationieren. Und auch wenn Vanackere die Schlagzahl im Lauf der Spielzeit erklärtermaßen reduzieren wird – die Neueröffnung als mehrtägiges Premierenfestival anzulegen hat in jedem Fall den Vorteil, dass nach der Aufführung immer schon vor der Aufführung ist. Man stellt sich also nicht mit einer dann als programmatische Ansage rezipierten Premiuminszenierung vor, sondern mit einem postdramatischen Kessel Buntes.Darin findet sich etwa noch Jérôme Bels bereits auf der Documenta aufgeführte Inszenierung Disabled Theater, die der französische Choreograf mit der Zürcher Theatergruppe Hora entwickelt hat. Deren Mitglieder teilen vermutlich vieles, in der Außenwahrnehmung aber vor allem unterschiedliche Formen geistiger Behinderung. Die Akteure werden in mehreren Durchgängen jeweils einzeln auf die Bühne gerufen, um Aufgaben, die Bel ihnen gestellt hat, zu erfüllen. Diese reichen von der Aufforderung, einfach eine Minute auf der Bühne zu stehen über die Entwicklung einer Choreografie zu einem selbst gewählten Musikstück bis zur Beantwortung der Frage, wie sie den gerade aktualisierten Performance-Ansatz selbst finden.Die Reaktionen fallen gemischt aus. Eine Performerin findet das Konzept schlicht „speziell“, ein Kollege berichtet von weinenden Familienmitgliedern, die den Abend als „Freak Show“ erlebt hätten. Erstaunlich, dass nach Schlingensiefs multimedialen Großtaten auf diesem Feld eine derart semireflexive Casting-Show mit eingebautem Nummernapplausprinzip als experimentelle Repräsentationskritik durchgeht. Da musste man dann wieder an Tim Etchells und den in Sachen Dialektik geschulteren Taxifahrer denken.