Nationale Umnachtungen: Über Rassismus und Geschichtsklitterung in Russland und Israel
Meinung Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek denkt über bizarre Theorien und krasse Rassismen in Israel und Russland nach: Nur von einer kleinen Minderheit vertreten, strahlen sie doch in die Gesellschaft aus
Wann immer der Gesellschaftsvertrag eines Landes zerbröselt, schafft das die Voraussetzungen für das Kursieren von Gerüchten und Absurditäten. Selbst wenn diese hanebüchen und offensichtlich unsinnig sind, können sie tief empfundenen Ängsten und Vorurteilen der Menschen Ausdruck verleihen.
So ist das heute in Russland, wo Sergei Markow, ein ehemaliger Berater von Präsident Wladimir Putin, gewarnt hat, dass die Ukraine „schwule Supersoldaten“ heranziehe, um Krieg gegen sein Land zu führen: „Militärtheoretiker und Historiker wissen, welche Armee in Griechenland die stärkste war, erinnert euch? Die Spartaner. Sie waren geeint durch eine homosexuelle Brüderschaft. Sie waren alle Homos. Das war die Politik ihrer Fü
riker wissen, welche Armee in Griechenland die stärkste war, erinnert euch? Die Spartaner. Sie waren geeint durch eine homosexuelle Brüderschaft. Sie waren alle Homos. Das war die Politik ihrer Führung. Ich glaube, sie planen dasselbe für die Streitkräfte der Ukraine.“Natürlich weist diese Mischung aus Schwulenfeindlichkeit, Geschichtsklitterung und von Marvel-Comics inspirierten Ideen über Supersoldaten darauf hin, dass Markow nicht daran interessiert ist, zu kritischem Denken und begründeter Analyse anzuregen. Doch egal: Zumindest bei einigen wichtigen Segmenten der russischen Gesellschaft stoßen derart idiotische Aussagen anscheinend auf Widerhall.Stalin ist gut, weil er so böse war?Dieselbe Umnachtung trifft zunehmend auf russische historische Erinnerungen wichtiger nationale Traumata und Verbrechen zu. Bei einer jüngsten Zeremonie in Welikije Luki in der russischen Oblast Pskow sprenkelte ein als „Pater Antonius“ bekannter Priester heiliges Wasser auf eine acht Meter hohe Stalin-Statue. Obwohl, wie er anmerkte, „die Kirche gelitten hat“ während Stalins langer Terrorherrschaft, sollten die Russen heute dankbar sein, dass sie so viele „neue russische Märtyrer und Bekenner [hätten], zu denen wir nun beten und die uns bei der Wiederauferstehung unseres Mutterlandes helfen“.Eine derart perverse Logik ist nur einen Schritt von der Argumentation entfernt, dass die Juden Hitler dankbar sein sollten, dass er ihnen den Weg zum Staate Israel eröffnet habe. Tatsächlich wird faktisch bereits genau so argumentiert. Laut einer Recherche des Nachrichten-Teams von Channel 13 in Israel wird künftigen israelischen Armeeoffizieren an der staatlich finanzierten militärischen Vorbereitungsakademie Bnei David von Rabbinern das Folgende vermittelt:„Es ging beim Holocaust nicht darum, die Juden zu töten. Unsinn. Und dass er systematisch und ideologisch erfolgte, macht ihn moralischer als willkürlichen Mord. Der Humanismus, die weltliche Kultur – das ist der Holocaust. Der wahre Holocaust ist der Pluralismus. Die Nazi-Logik war in sich schlüssig. Hitler sagte, dass eine bestimmte Gruppe innerhalb der Gesellschaft die Ursache allen Übels in der Welt sei und daher ausgerottet werden müsse. … Gott verkündet seit Jahren lauthals, dass die Diaspora vorbei ist, doch die Juden gehorchen nicht. Das ist ihre Krankheit, die der Holocaust heilen muss. … Hitler war absolut rechtschaffen. Natürlich hatte er Recht mit jedem Wort, das er sagte. Seine Ideologie war korrekt. … [D]er einzige Fehler [der Nazis] bestand darin, wer auf welcher Seite stand.“Palästinenser wollen unter der Besatzung leben?Damit nicht genug. Die Studenten lernen zudem Folgendes:„Mit Hilfe Gottes wird die Sklaverei zurückkehren. Die Nichtjuden werden unsere Sklaven sein wollen. Diese Menschen um uns herum haben genetische Probleme. Fragt einen durchschnittlichen Araber, was er sein will. Er will unter der Besatzung leben. … Sie wissen nicht, wie man ein Land regiert oder irgendwas. … Ja, wir sind Rassisten. Wir glauben an Rassismus. Rassen haben genetische Merkmale. Daher müssen wir erwägen, wie wir ihnen helfen können.“Natürlich wird diese extreme Rhetorik offen nur von einer winzigen, fanatischen religiösen Minderheit vertreten. Und doch ist sie ein Hinweis auf die unterschwellige Prämisse, die der Politik der aktuellen rechtsextremen Regierung in Bezug auf das Westjordanland zugrunde liegt. Die Lage in Israel und seinen besetzten Gebieten mit Nazi-Deutschland zu vergleichen, mag wie eine lächerliche Übertreibung erscheinen, und wenn ein Nichtjude diesen Vergleich anstellt, wird er sofort als antisemitisch abgetan. Doch wenn führende jüdische Köpfe dies tun, sollte man ihnen zuhören. Wenn eine Gesellschaft sich in Schichten tendenziöser Selbstrechtfertigung gehüllt hat, erfordert es Insider, um den Schleier wegzuziehen.Placeholder image-1Man beachte den Fall von Amiram Levin, dem früheren Befehlshaber des nördlichen Kommandos der israelischen Streitkräfte. In einem jüngsten Interview mit dem öffentlichen israelischen Rundfunk über die Lage im Westjordanland äußerte er: „Es gibt dort seit 57 Jahren keine Demokratie, es herrscht völlige Apartheid. … die israelischen Streitkräfte, die gezwungen sind, dort die Souveränität auszuüben, verfaulen von innen heraus. Sie sehen den randalierenden Siedlern tatenlos zu und beginnen, ein Partner von Kriegsverbrechen zu sein.“Der Gesellschaftsvertrag bröckelt unter dem Gewicht des KolonialismusAuf die Bitte, dies näher auszuführen, verwies Levin auf Nazi-Deutschland: „Es ist schwer für uns, es auszusprechen, aber es ist die Wahrheit. Gehen Sie durch Hebron, sehen Sie sich die Straßen an. Straßen, zu denen Arabern nicht länger Zutritt gestattet ist, nur Juden. Das ist genau, was dort passierte, in jenem dunklen Land.“Dass ein pensionierter General der israelischen Streitkräfte zu einem derartigen Schluss gelangt, ist nicht nur ein Zeugnis seiner außergewöhnlichen ethischen Haltung, sondern zeigt auch, wie schlimm die Lage dort inzwischen ist. Doch so lange es Israelis wie Levin gibt, besteht Hoffnung, weil die Palästinenser des Westjordanlandes nur mit der Solidarität und Unterstützung von Menschen wie ihm eine Chance haben.Sowohl in Russland als auch in Israel zerbricht der Gesellschaftsvertrag heute unter dem Gewicht des Kolonialismus und grundsätzlicher Meinungsverschiedenheiten über grundlegende Prinzipien. In einer derartigen Lage ist die Gefahr zunehmend absurder und extremer Formen der Rationalisierung groß. Doch nur weil man sich einen Grund einfallen lassen kann, etwas zu tun, sollte man es noch nicht tun. Wenn Gesellschaften zerbrechen, erfordert es häufig größere Stärke, gegen falsche Gründe Widerstand zu leisten, als richtigen Gründen zu folgen.