Die Vergewaltiger hatten Lucía Pérez noch gewaschen, angezogen und in einer Krankenstation abgeliefert. Dort erzählten die Männer, dass das Mädchen nach einer Überdosis Drogen bewusstlos geworden sei. 40 Minuten lang versuchten Ärzte, Pérez wiederzubeleben, doch die 16-Jährige verblutete an inneren Verletzungen — weil sie nicht nur unter Drogen gesetzt und vergewaltigt, sondern auch gepfählt worden war. Der Mord am 8. Oktober hat ganz Argentinien entsetzt.
NGOs und Aktivistinnen riefen online mit dem Hashtag #NiUnaMenos („Nicht eine weniger“) zum Streik auf: Am „Schwarzen Mittwoch“ wenige Tage danach kamen trotz Regen 200.000 Menschen in Buenos Aires zusammen, schwarz gekleidet. Manche Frauen hatten sich mit Kunstblut beschmiert: „Schluss mit der Macho-Gewalt, wir wollen, dass sie leben“, stand auf Plakaten. Auch in anderen Städten gab es Proteste. Der Tod von Pérez war besonders brutal – doch Frauenmorde und sexuelle Gewalt sind in Argentinien alltäglich.
Alle 30 Stunden ein Mord
Der NGO La Casa del Encuentro zufolge sind zwischen 2008 und 2014 mehr als 1.800 Frauen in Argentinien ermordet worden. Etwa alle 30 Stunden geschieht ein femicido, ein Mord an einer Frau, nur weil sie eine Frau ist – meist verübt von Partnern, Ex-Partnern oder Tätern, die die Frauen kennen. Allein im vergangenen Jahr wurden 235 Frauen ermordet, mindestens. Denn die Daten sind unvollständig. Die Regierung hat es lang versäumt, die Morde in einer offiziellen Datenbank zu erfassen. In den meisten Fällen kommen die Täter auch ungestraft davon. Die fehlende Strafverfolgung ist für Frauen mörderisch, weil sie ein Klima schafft, in dem Täter wissen, dass es oft keine Konsequenzen gibt.
Die mutmaßlichen Mörder von Lucía Pérez wurden verhaftet, immerhin. Der Tod ihrer Tochter sei wie ein Tsunami gewesen, sagte ihre Mutter. Die Familie spricht mit der Presse und nimmt an Märschen teil, um auf das Leid vieler anderer Mädchen und Frauen aufmerksam zu machen. „Ähnliche Sachen sind vielen Familien aus Mar del Plata passiert“, sagte die Mutter. Wenige Tage nach den Protesten wurde in Mar del Plata erneut eine 19-Jährige vergewaltigt, in Mendoza erstach ein Mann seine Ex-Freundin, deren Tante und Großmutter.
Vor einem Jahr hatte der Tod der 14-jährigen Chiara Páez das Land erschüttert. Páez war schwanger. Ihr 16-jähriger Freund, der das Kind nicht wollte, prügelte sie zu Tode und vergrub die Leiche unter dem Haus seiner Großeltern. Die Familie half ihm dabei. Erschüttert von der Tat twitterte die Journalistin Marcela Ojeda: „Ni una menos“ („Nicht eine weniger“) – und prägte so den Schlachtruf der neuen Bewegung, die über soziale Netzwerke massiv Präsenz aufgebaut hat und immer mehr Zulauf erhält. Aktivistinnen in Lateinamerika kämpfen zwar seit Jahrzehnten gegen die Gewalt, doch niemals war ihr Widerstand so sichtbar wie jetzt. Und langsam setzt eine gesellschaftliche Debatte ein.
„Der Mord an Lucía Pérez hat eine Welle der Entrüstung und wie bei Chiara Páez Proteste ausgelöst – innerhalb von weniger als zwei Jahren gab es in Argentinien mehrere große Protestbewegungen“, sagt die Journalistin Ingrid Beck, die sich in der Bewegung engagiert und mit anderen Aktivistinnen Reformvorschläge erarbeitet hat. „Es war wie ein Davor und ein Danach für die Frauenbewegung.“
Argentinien ist ein Land, das bis heute stark von der katholischen Kirche geprägt wird. Während der Militärdiktatur in den 1970er und 1980er Jahren hatten die Generäle konservative Werte propagiert und liberale Ideen und ihre Vertreter unterdrückt. Tausende linksgerichtete Aktivisten und Aktivistinnen, die sich für soziale Gerechtigkeit, aber auch Frauenrechte einsetzten, wurden entführt, gefoltert, ermordet – namenlos verscharrt oder von Flugzeugen aus ins Meer geworfen. Die Kirche profitierte von dem Kreuzzug, viele Priester und Geistliche kooperierten mit dem Regime.
Auch das in Lateinamerika verbreitete Männerbild vom Macho, dessen Besitzanspruch und Eifersucht als Liebe verherrlicht werden, fördert die Gewalt. Übergriffe werden toleriert, Gewalttaten häufig als „Leidenschaft“ glorifiziert. „Die Frauenmorde müssen mit höchster Dringlichkeit bekämpft werden“, sagt Ingrid Beck. „Danach müssen wir aber auch die alltägliche Macho-Gewalt beenden, die viel unsichtbarer ist, viel natürlicher erscheint und deswegen auch sehr schwierig anzugehen ist.“
In ganz Lateinamerika haben in diesem Jahr Proteste stattgefunden. 50.000 Menschen gingen in Peru auf die Straßen, nachdem mehrere überführte Täter lächerlich geringe Strafen erhalten hatten. Jeden Monat werden in Peru zehn Frauen ermordet – dazu kommen 20 Mordversuche. In Brasilien hat im Mai die Gruppenvergewaltigung einer 16-Jährigen in einer Favela Entsetzen ausgelöst. Nabila Rifo wurde in Chile von Nachbarn gefunden, mit ausgeschlagenen Zähnen, Knochenbrüchen, die Augen mit einem Autoschlüssel ausgestochen, sie überlebte schwer verletzt – daraufhin wurde sie bei Protesten zum Symbol.
In Mexiko sind Frauenmorde und sexuelle Gewalt wie eine Epidemie, täglich werden etwa sieben Frauen getötet. Twitter und Facebook werden mit Fotos von Frauen geflutet, die vergewaltigt, erstochen, erstickt oder erschossen wurden. Die Morde sind nicht nur auf die Grenzstadt Ciudad Juárez begrenzt, die „Hauptstadt der toten Frauen“ – sie geschehen im ganzen Land. Polizei und Justiz sind überfordert oder korrupt. Auch in den USA finden Millionen Übergriffe statt, doch in vielen lateinamerikanischen Ländern mischt sich Sexismus mit kaputten staatlichen Strukturen, einer schwachen Justiz und korrupten Sicherheitskräften zu einem tödlichen Cocktail.
Gewalt sichtbar machen
Am Tag der argentinischen Ni-una-menos-Proteste fanden auch in Mexiko, Chile, Guatemala und Uruguay Proteste statt. „Der Fall von Lucía hat in Mexiko viele bewegt. Ihr Alter und die brutale Art, wie sie umgebracht wurde, haben uns schockiert“, sagt Nora Hinojo, eine mexikanische Studentin. Die 25-Jährige findet die Proteste wichtig, um die Gewalt sichtbar zu machen – und um sich gegenseitig zu unterstützen. „Die Proteste sind eine Möglichkeit, andere Frauen zu treffen, sich zu umarmen, eine Katharsis angesichts der Schmerzen und der Gewalt, die wir erleben.“ Das Problem sei systemisch – deswegen sei es notwendig, dass sich Frauen in ganz Lateinamerika organisierten.
Oft werden die Opfer beschuldigt, dass sie die Tat provoziert hätten, wenn sie den Mut haben, die Übergriffe anzuzeigen. Ermittlungen ziehen sich hin. Die Amerikanerin Andrea Noel griff zur Selbstjustiz, nachdem sie in Mexiko-Stadt in einem wohlhabenden Viertel von einem Mann sexuell belästigt wurde. Sie besorgte sich die Aufnahme einer Überwachungskamera und postete sie auf Twitter, um den Täter zu finden. Das Echo: Morddrohungen und Hass, aber auch Frauen, die sie bestärkten.
Unter dem Hashtag #MiPrimerAcoso („Mein erster Übergriff“) teilten mexikanische Frauen eigene Erfahrungen mit sexuellen Attacken. Innerhalb der ersten 48 Stunden gab es mehr als 75.000 Tweets dazu. Der Plattform Distintas Latitudes zufolge, die die Tweets auswertete, wurden die Frauen durchschnittlich im Alter von acht Jahren zum ersten Mal belästigt, oft betatscht, viele auf der Straße oder in öffentlichen Verkehrsmitteln.
Die neue Sichtbarkeit ist für die Frauen eine Waffe gegen die Gewalt. „Ich habe schon das Gefühl, dass sich gerade etwas bewegt“, sagt Hinojo. „Vielleicht liegt es an der Darstellung der Gewalt an neuen Orten wie den sozialen Netzwerken. Ich glaube, dass wir von hier ausgehend etwas aufbauen können, etwas, das uns viel Kraft gibt.“
Die Onlinekampagnen tragen dazu bei, das Thema auf der öffentlichen Agenda zu halten. „Ich weiß nicht, ob es die Welt verändert, aber wir können online zumindest mit der Welt sprechen“, sagt Ingrid Beck aus Argentinien. Um die argentinische Regierung zu zwingen, endlich zu handeln, versucht die Bewegung Ni una menos mit einer Onlinebefragung das Ausmaß des Phänomens zu erfassen. Die Regierung hat zwar eine Strategie gegen die Gewalt und einen Schutzplan für Frauen präsentiert, doch die Umsetzung ist schleppend. „Wir sehen keine Resultate und die Morde gehen einfach weiter“, sagt Beck.
Für die digitale Untersuchung wurden mehr als 59.000 Mädchen und Frauen befragt. Die 186 Fragen umfassten neben physischer auch psychische Gewalt. Am 25. November 2016, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, werden die Ergebnisse der Studie veröffentlicht. Ein wichtiger Schritt: Indem Millionen Frauen ihre Geschichten teilen, wird ihnen oft erst bewusst, dass ihre Erfahrungen nichts Ungewöhnliches sind. Nicht ihre Schuld, kein Pech – und kein Einzelfall.
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