Ein Auge im Guckloch, zwei Umdrehungen im Sicherheitsschloss, dann öffnet Katarzyna Łabędz die Tür. Die Mittdreißigerin arbeitet für Federacja, die Organisation für Frauen- und Reproduktionsrechte in Warschau. Wer sich in Polen für Abtreibungen einsetzt, ist lieber vorsichtig: Abtreibungsgegner wedeln in Innenstädten mit blutigen Embryobildern und beschuldigen Ärzte, Patientinnen und Aktivisten, unverantwortliche Egoistinnen und gottlose Mörder zu sein. Die sieben Federacja-Frauen kämpfen an vorderster Front, mit Stellungnahmen und Petitionen, Protesten und Aktionen.
Ihre wichtigste Waffe steht in einem ruhigen, dunklen Raum neben einem Sessel: ein Festnetztelefon. Von Montag bis Freitag sitzt zwischen 16 und 20 Uhr eine Aktivistin davor. Die ungeschönte Realität hat Federacja fest im Blick, das Sorgentelefon ist seit der Gründung der Organisation im November 1991 mit dabei. Damals änderte sich das Abtreibungsrecht: Über 30 Jahre waren Abtreibungen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche legal. Mit dem Fall des Sozialismus 1990 gewann die katholische Kirche an Einfluss und forderte ein komplettes Abtreibungsverbot. Frauenorganisationen protestierten und sammelten Unterschriften. Der Erfolg war minimal. Drei Ausnahmen vom Verbot ermöglichen Abtreibungen: wenn die Gesundheit der Mutter gefährdet ist, der Embryo schwere Behinderungen aufweist oder die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist.
Die Armen bestellen Tabletten
Durch das vergitterte Fenster schaut man auf die fast menschenleere Straße. Nur eine Parallelstraße weiter pulsiert das Warschauer Stadtleben. Eine passende Metapher: So wie Federacja mitten im Zentrum der Hauptstadt liegt und doch unbemerkt bleibt, hört man in der Gesellschaft nichts von Abtreibungen. 1.098 Schwangerschaftsabbrüche gab es 2016 offiziell. Federacja geht von jährlich 100.000 bis 150.000 Eingriffen aus. Das größte Meinungsforschungsinstitut Polens, CBOS, gibt an, dass 25 – 35 Prozent aller Polinnen schon mal abgetrieben haben. 400 bis 500 Euro kostet der Eingriff in deutschen, tschechischen oder slowakischen Krankenhäusern. Wer sich die verhältnismäßig hohen Kosten nicht leisten kann, bestellt übers Internet Tabletten, die daheim geschluckt werden – mit schmerzhaften Auswirkungen: Frauen berichten von starken Schmerzen, Schüttelfrost oder Temperaturschüben, von Schwindel und Erbrechen.
Schmerzhaft ist auch die Stille: Die Frauen halten ihre Abtreibung aus Angst vor Stigmatisierung oft vor der Familie, sogar vor der besten Freundin geheim und trauen sich nicht einmal zu Psychologen, berichtet Łabędz. Natalia Przybysz, Schauspielerin und zweifache Mutter, hat in einem Interview beim wöchentlichen Frauenmagazin Wysokie Obcasy über ihre Abtreibung gesprochen. „So viele Hasskommentare hatte ich nicht erwartet“, fasst sie die Reaktionen zusammen. Wenn Frauen ein unterstützender Partner fehlt, sind die Federacja-Frauen häufig die Einzigen, mit denen die Schwangeren sprechen. Und auch sie dürfen nicht immer helfen. Wieso? Katarzyna Łabędz holt aus:
Selbst wenn ein Schwangerschaftsabbruch aufgrund der drei Ausnahmen legal wäre, suchen die Betroffenen oft vergeblich nach Ärztinnen oder Ärzten, die ihn durchführen könnten. Denn diese dürfen den Eingriff unter Berufung auf eine Gewissensklausel verweigern, ohne ihre Patientinnen weiterzuvermitteln. Łabędz erzählt von der Verzweiflung dieser Frauen: „Sie sind am Boden zerstört. Sie wissen nicht weiter, weil der Arzt, die Instanz, von der sie Hilfe erwarten, sie nur wegschickt.“ Wer über Faltblätter oder Mund-zu-Mund-Propaganda vom Sorgentelefon von Federacja gehört hat, kann sich glücklich schätzen: Die Aktivistinnen beraten die Betroffenen über das weitere Vorgehen und vermitteln die Frauen im Notfall selbst an Ärztinnen und Ärzte weiter. „Das sind kleine Erfolge, die Mut machen“, berichtet Łabędz mit einem Lächeln. Hart ist, wenn Schwangere anrufen, die sich aus anderen Gründen für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden. Dann darf die Organisation nicht helfen. Zuhören geht, aber bei der Frage nach Möglichkeiten des Schwangerschaftsabbruchs müssen die Mitarbeiterinnen abblocken: Beihilfe zur illegalen Abtreibung wäre das, sie würden sich strafbar machen.
Informationen werden Frauen auch in Deutschland vorenthalten: Erst kürzlich wurde eine Gießener Ärztin für Informationen über Schwangerschaftsabbrüche auf ihrer Webseite verurteilt – zu 6.000 Euro Strafe. Sie mache Werbung für Abtreibungen, hieß es in der Anklageschrift, und die ist laut Gesetz in Deutschland illegal. In Deutschland folgte dem Urteil eine breite Diskussion. Łabędz merkt man die Wut in der Stimme kaum an, wenn sie sagt: „Das polnische Gesetz verbietet uns, betroffenen Frauen zu helfen.“ Doch zumindest hört den Anruferinnen jemand zu, auch wenn sie weitere Informationen selbst im Internet finden müssen.
Emotional wird Katarzyna Łabędz, wenn sie über den sogenannten Schwarzen Protest vor einem Jahr spricht: „Ich habe immer noch eine Gänsehaut, wenn ich daran denke! Es hat den ganzen Tag durchgeregnet, ich war durchnässt bis auf meine Unterwäsche, stand da mitten zwischen den Demonstrierenden und habe geweint, weil es so schön war.“ Fast 100.000 schwarz gekleidete Frauen und Männer gingen am 3. Oktober 2016 in verschiedenen polnischen Städten auf die Straße. Sie protestierten gegen eine konservative Bürgerinitiative, die ein komplettes Abtreibungsverbot forderte. Die Regierung gab dem Druck der Straße nach.
Keine Sexualkunde
Am 3. Oktober ein Jahr später regnete es nicht mehr, aber zu den Protesten kamen nur ein paar tausend Teilnehmende. In Krakau war die Theaterstudentin Dominika Bremer dabei. „Die Situation ist nicht so dramatisch wie im letzten Jahr“, erklärt sich Bremer das abnehmende Interesse. Wenn sich die Lage wieder zuspitzt, sind die Straßen wieder voll, ist sie sicher. Auch Łabędz bereitet sich auf eine neue Konfrontation vor: Am 20. November endete eine kirchlich unterstützte Unterschriftenaktion, die das Abtreibungsgesetz weiter einschränken soll. Federacja hat zusammen mit anderen Frauenorganisationen einen Gegenentwurf eingereicht, der eine Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes, freien Zugang zu Verhütungsmitteln und guten Sexualkundeunterricht vorsieht. Die Maßnahmen wären dringend notwendig: Im Juni wurde die „Pille danach“ wieder rezeptpflichtig. Seit Jahren steht statt Aufklärungsunterricht das Fach „Erziehung zum Leben in der Familie“ auf dem Stundenplan. Das im Unterricht vermittelte Familienbild sei traditionell, für alternative Modelle gebe es keinen Platz. Auch nicht dafür, „sich an Sex zu freuen“, beklagt Łabędz. Selbstbefriedigung werde stigmatisiert, Verhütungsmittel werden als unzuverlässig dargestellt. Nach ihrer Verhütungsmethode gefragt, geben die Polen an zweiter Stelle nach dem Kondom den Coitus interruptus an. „Aber das ist keine sichere Verhütungsmethode, und es zeugt davon, auf was für einem Stand die Aufklärung der polnischen Bevölkerung ist.“
Das zeigen auch die Anrufe der Jugendlichen: „Manche Fragen sind total kurios“, erzählt Łabędz und greift nach einem dicken Leitz-Ordner, in dem jeder Anruf notiert wird. Pro Anruf ein Formular, 2.500 waren es im vergangenen Jahr. Sie blättert, hält inne, blättert weiter, legt den Ordner zurück auf den Tisch. Sie sagt: „Ich wollte etwas Witziges finden, aber das sind ernste Angelegenheiten. Manchmal rufen Jungen an, weil sie wissen wollen, ob ihr Penis zu kurz ist. Oder verängstigte Mädchen, die wissen wollen, ob sie schwanger sind, weil sie sich mit dem Handtuch des Bruders abgetrocknet haben.“
Die Frauenrechtlerin weiß, dass ihre Petition keinen Erfolg haben wird: „Nicht mit dieser Regierung.“ Und so werden die Federacja-Frauen weiter am Telefon sitzen, immer wochentags, ab 16 Uhr.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.