In Lord Byrons Gedicht „Finsternis“ heißt es: „Ich hatte einen Traum, der keiner war. Die Sonne war erloschen, und die Sterne, verdunkelt, schweiften weglos durch den Raum.“ Seit Beginn der Pandemie haben wir alle Träume, die keine sind: Albträume, die jetzt Wirklichkeit werden. Gestern, kurz vor dem Einschlafen, als ich durch die Bilder aus dem brennenden Kalifornien scrollte, wusste ich auf einmal nicht mehr, ob das die Wirklichkeit war oder Science-Fiction, ob es die USA im Jahr 2020 waren oder Blade Runner 2049.
Während ich wie viele am Bildschirm klebte und mit den verheerenden Waldbränden auf einem anderen Kontinent beschäftigt war, hatte ich gar nicht mitbekommen, dass auch hier bei mir, auf der Insel Vis, ein Waldbrand ausgebrochen war. Erst eine Nachricht, die mir jemand vom Festland schickte, machte mich darauf aufmerksam. Der Albtraum von Kalifornien ist eben nicht nur etwas, das „da drüben“ geschieht; überall auf der Welt wird er gerade Teil unserer alltäglichen Wirklichkeit, er prägt sich in unser kollektives Unbewusstes ein.
Vis liegt 51 Kilometer von der kroatischen und rund 150 Kilometer von der italienischen Küste entfernt, es ist eine der entlegensten bewohnten Inseln der Adria. Wenn der Nordwind bura den Himmel klar fegt, können wir von hier – so unvorstellbar es klingt – die Berge hinter Pescara an der italienischen Küste sehen. Wenn dagegen mehrere Tage lang der jugo – auch sirocco genannt – bläst, sieht man fast nichts und niemanden mehr, weil die Insel vollkommen in feuchte Luft und niedrige Wolken gehüllt ist, die aus der Sahara kommen. Am liebsten würde ich dann aus meiner eigenen Haut fahren. Südwind ist hier nicht nur ein Wind, Südwind ist ein Gemütszustand, der in der ganzen Mittelmeerregion bekannt ist. Kein Wunder, dass es in so vielen Sprachen und Ländern, die ans Mittelmeer angrenzen, eine eigene Bezeichnung für den jugo gibt: levante in Spanien, leveche in Marokko, chergui in Algerien, chili in Tunesien, ghibli in Lybien, khamsin in Ägypten, scharav in Israel, scharkiye in Jordanien und schamal im Irak.
Das Wasser reicht nicht für alle
Wenn der Südwind etwas Gutes hat, dann, dass er normalerweise Regen bringt. Das ist gut für die Insel und die Landwirtschaft, also Reben, Oliven- und Johannesbrotbäume, Rosmarin, Oregano und Lavendel. Doch in diesem Sommer gab es auf Vis kaum Niederschlag. Der letzte echte Regen fiel im März. Während alle sich wegen Corona Sorgen machen, setzt uns auch die Dürre böse zu. Trockene Sommer und Hitzewellen werden derzeit auch in der kroatischen Region Dalmatien zur „neuen Normalität“. Die Olivenernte wird dieses Jahr voraussichtlich nur die Hälfte der normalen Menge ausmachen, die Olivenöl-Preise werden in die Höhe schießen. Während der Hochsaison in diesem Sommer – wo es auf Vis überraschend voll war, weit weg von Festland und Pandemie – kam es regelmäßig zu Ausfällen bei der Wasserversorgung. Auch wenn die Insel, die vor rund 220 Millionen Jahren aus Vulkangestein entstanden ist, eigene Süßwasserquellen besitzt: für alle Touristen und die Landwirtschaft reicht es offensichtlich nicht.
Das sind nur einige der Probleme, vor denen die Inselbevölkerung steht. Sie verblassen im Vergleich dazu, was im Rest der Welt passiert. Aber die Veränderungen haben die Insel verletzlicher gemacht. Früher produzierte Vis den Großteil des Fisches für die Region Dalmatien, es gab hier die ersten Fischverarbeitungsfabriken im Mittelmeer. Heute ist die Insel vollständig vom Tourismus abhängig und in den globalen Kapitalismus integriert. Dieser Wandel verschärft die Gefahren, die eine unerwartete Katastrophe mit sich bringt, sei es die Pandemie oder die Klimakrise.
Als im Frühjahr die Pandemie und die Lockdowns anfingen, ging das Leben auf der Insel entspannt weiter; pomalo sagt man hier, langsam. Auch wenn die örtliche Bevölkerung wusste, dass auf der ganzen Welt ein Virus wütete, hatte man hier wenigstens das Glück, aufs Meer zu gucken anstatt auf einen Bildschirm, in der Natur spazieren zu gehen oder zu arbeiten, weit weg zu sein von den überfüllten Siedlungen, öffentlichen Transportmitteln und Hotspots der Pandemie. Aber als der Sommer näher rückte, verdüsterten sich die Befürchtungen für die Tourismussaison, die Haupteinnahmequelle der Mehrheit hier. Als ich im Juni zurückkam, war die Insel leer – sehr ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Erst Mitte Juli, als die Corona-Beschränkungen in ganz Europa gelockert waren, kamen die Touristen zunächst mit dem Auto aus Österreich, Deutschland, Polen, Slowenien und Serbien; es folgten die Segelboote und Superjachten. Im August war kein Unterschied mehr zu einer normalen Touristensaison auszumachen. Es war brechend voll. Der einzige Unterschied war, dass gerade eine Pandemie grassierte.
Anfang September, als Kroatien schon wieder auf den „roten Listen“ vieler europäischer Länder stand, leerte sich die Insel plötzlich. Der Himmel über Kalifornien färbte sich blutrot, und während ich die Bilder der Klima-Apokalypse betrachtete, brach hinter dem Hügel, den ich aus meinem Fenster heraus sehen kann, ein Waldbrand aus. Gestern Abend konnte er gelöscht werden, aber während ich das hier schreibe, kann ich die Sirenen der Feuerwehrwagen hören, die in Richtung des wieder aufflackernden Feuers fahren, um es noch einmal zu löschen. Der Hauptgrund für diese Feuer ist ein globales Geschehen, das Auswirkungen auf lokale Gegebenheiten auf der ganzen Erde hat. Stärkere Winde und verheerende Dürren sind das Ergebnis der globalen Erwärmung und der Klimakrise – im Laufe dieses Jahres brannte es im Amazonas, in Sibirien, in Australien und Afrika. Jetzt sind Kalifornien und eine abgelegene Insel mitten in der Adria dran. Es ist eine Postkarte aus einer Zukunft, die uns allen bevorsteht.
Wenn ich die Bilder des Himmels über Kalifornien sehe, der sich orange und rot einfärbt, während eine Pandemie durch die rapide zerfallenden USA rauscht; wenn ich die Bilder aus dem implodierenden Europa sehe, dem brennenden Flüchtlingscamp Moria auf Lesbos, während zugleich der Rassismus und Autoritarismus zunimmt und immer Leute irgendwelchen Verschwörungstheorien Glauben schenken, dann muss ich an Lord Byrons Gedicht „Finsternis“ denken.
1816, das Jahr ohne Sommer
Byron schrieb es im Jahr 1816, das auch das „Jahr ohne Sommer“ genannt wurde. Ein Jahr zuvor war auf der indonesischen Insel Sumbawa der Vulkan Tambora ausgebrochen, bis heute der heftigste Vulkanausbruch in der Menschheitsgeschichte. Millionen Tonnen Asche und Schwefeldioxidgas gelangten in die Atmosphäre und verwandelten sich in eine riesige Wolke. Der Ausbruch führte zu abrupten weltweiten Klimaveränderungen. Zuerst kühlte die Luft ab, dann das Land und schließlich die Temperatur der Ozeane. Die Folge waren Verwüstungen in der Landwirtschaft und Lebensmittelknappheit. Europa hatte sich noch nicht von den Napoleonischen Kriegen erholt und sowieso schon mit Hungersnot zu kämpfen, als die Katastrophe hereinbrach. Die Klimaschwankungen zwangen viele Menschen zur Binnenmigration; Städte und Dörfer wurden immer dichter besiedelt. Das wiederum führte zu schweren Typhusausbrüchen in Südosteuropa und dem östlichen Mittelmeerraum, während die Störung des indischen Monsuns Missernten und Hungersnöte zur Folge hatte, was zur ersten Cholerapandemie beitrug.
Die stratosphärische Aerosolwolke des Tambora bewirkte nicht nur einen globalen Temperatursturz, sondern auch außergewöhnliche optische Phänomene wie die spektakulären roten und orangen Sonnenuntergänge in London im Sommer und Herbst des Jahres 1816. Gemälde aus der Zeit zeigen diese Farben, insbesondere die Sonnenuntergangsbilder des britischen Malers William Turner. Während des Sommers 1816 zwangen ungewöhnliche Regenfälle Lord Byron – gemeinsam mit Mary Shelley, der Schöpferin von Frankenstein – in seinem Haus zu bleiben, von wo aus er den Genfer See überblicken konnte – und über den dunklen Tag schrieb, „als die Hühner mittags schlafen gingen und Kerzen angezündet werden mussten, als wär’s Mitternacht“. Die Dunkelheit kam plötzlich. Die beiden vertrieben sich – wie in Boccacios Decamerone eine Gruppe junger Frauen und Männer, die vor der Pest in eine abgelegene Villa außerhalb von Florenz flieht – die Zeit damit, sich vor dem Kamin Schauergeschichten zu erzählen. Außer zu immensem Leid führte dieses planetarische Ereignis auch zu einem der schönsten Erzeugnisse menschlicher Schöpfungskraft, zu Byrons „Finsternis“, das uns heute noch ein besseres Verständnis des apokalyptischen Zeitgeists von 1816 vermittelt.
Und nach dem Weltuntergang?
Angesichts unserer gegenwärtigen „Finsternis“ könnte uns die Tatsache Trost spenden, dass andere vor uns ähnliche Erfahrungen durchgemacht haben und auch „das Gefühl eines Zuendegehens“ (The sense of an Ending) hatten, wie das einflussreiche Buch des britischen Literaturkritikers Frank Kermode heißt. Kermode ist mit der These bekannt geworden, dass eschatologisches Denken, also Vorstellungen über das Ende der Welt und der Geschichte, in unser Verständnis der Welt eingeschrieben ist. Er zeigte das in den Werken von William Blake und T. S. Eliot, Shakespeare und Yeats. Der Unterschied zu früher ist allerdings, dass wir, anders als unsere Vorfahren, die nur äußert schleppend Nachrichten aus anderen Ländern und Erdteilen erfuhren, sofort wüssten, dass die Dunkelheit über Genf im Jahr 1816 durch eine Naturkatastrophe verursacht wurde, nämlich den Ausbruch eines Supervulkans am anderen Ende der Welt.
Wir wissen auch, dass der blutrote Himmel in Kalifornien den Waldbränden und nicht Actionfilm-Regisseur Ridley Scott geschuldet ist. Und wir wissen, dass es sich dabei nicht um ein mysteriöses Ereignis, sondern eine Folge der Klimakrise handelt – dasselbe gilt für die Feuer in Australien und im Amazonas. Trotzdem scheinen viele immer noch nicht wahrhaben zu wollen, dass all das nur Vorboten einer viel größeren Katastrophe planetarischen Ausmaßes sind.
Es ist nicht nur die drohende Klimakrise, die schon jetzt zu plötzlichen Veränderungen des Wettergeschehens führt, die unsere Himmel in Turner-Gemälde verwandelt und unser kollektives Unbewusstes in Byrons düsteres Gedicht. Dazu kommt die permanente nukleare Bedrohung, die diese jetzt schon dystopische Realität leicht in etwas noch viel Unheimlicheres verwandeln könnte. Was, wenn die Himmel über der ganzen Erde aussähen wie jener über Kalifornien? Was, wenn ein nuklearer Winter Hunderte Feuerstürme produzierte, die einen nie da gewesenen globalen Klimaabkühlungseffekt hätten? Wenn ein Vulkanausbruch das Klima um mehrere Grade abkühlen kann, könnte eine Atomkatastrophe noch viel verheerendere Auswirkungen auf den Planeten haben.
Ich hatte einen Traum, der keiner war. Darin war die Apokalypse bereits passiert und der globale Kapitalismus – mit seinem unheimlichen Spießgesellen, dem globalen Faschismus – war verschwunden. Wir konnten die Sonne und die Sterne wieder sehen, wir konnten andere Menschen und andere Arten als Mitgeschöpfe betrachten, wir waren in der Lage, die Zukunft aus den Ruinen unserer dystopischen Gegenwart neu zu erfinden. Weil es keine andere Alternative gab.
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