Jazz hinter dem Schlagbaum

Lauschangriff Die Ränder der neuen Welt sind Musikern des modernen Jazz schon lange zu eng: Angelika Niescier führt vor, wie man über sie hinausgehen kann

Aufrecht steht Angelika Niescier im Hintergrund der Bühne, ihr Altsaxofon hält sie hinter verschränkten Armen, leicht wiegt sie sich im Takt – die Kölner Musikerin folgt den Wegen, auf denen die Band gerade ihre Musik zum Blühen bringt. Im Mittelpunkt des Geschehens sitzt derweil der Oud-Spieler Mehdi Haddab, der eine kleine rhythmische Phrase im Geflecht der Töne von Klavier, Kon­trabass und Schlagzeug entwurzelt, hin und her wendet und in ein fetziges Rockriff verwandelt, als wäre seine Kurzhalslaute eine E-Gitarre.

Dabei pustet Haddab keineswegs den Wüsten- und Traditionsstaub hinfort, der für einen aus Algerien stammenden Musiker auf dem Oud zwangsläufig liegt. Ein Instrument, das in der arabischen Welt immer männlichen Geschlechts ist, nur von Männern gespielt wird, eine zentrale Klangfarbe für diese Kultursphäre. Haddab ist aus den traditionellen Bindungen herausgewachsen, sein Spiel geht ein entscheidendes Stück weiter.

Wie das von Angelika Niescier: Sie geht wieder nach vorne, setzt ihr Instrument an, greift eine von Haddabs Phrasen auf, die ganz selbstverständlich die Mechanik der zwölftönigen europäischen Konvention zersetzen, führt sie weiter und verschärft genüsslich die mikrotonalen Erweiterungen und Reibungen, als würde sie sie schlürfen. Sie findet wiederum einen neuen Ton. Angelika Niescier ist eine famose Saxofonistin, deutlich geprägt von den schwergewichtigen Spielern der sechziger Jahre nimmt sie ihrem Alt die Leichtfertigkeit, die häufig mit seiner Beweglichkeit einhergeht. Ihr Ton ist dunkel und schwer, dabei wandlungsfähig und facettenreich, ihre Haltung Leidenschaft. Im Alter von 37 Jahren ist die an der Essener Folkwang-Schule ausgebildete Musikerin ein Paradebeispiel für Musiker, die den Jazz, wie man ihn kennt, von der Pike auf gelernt, die in ihm angesammelten Erfahrungen verarbeitet haben und nun danach streben, ein neues Feld zu bestellen.

Die Ränder der neuen Welt sind Musikern des modernen Jazz schon lange eng. Bereits in den seligen fünfziger und sechziger Jahren drängte es Musiker wie den kürzlich verstorbenen Charlie Mariano, den Trompeter Don Cherry oder John Coltrane, über die gewohnten Grenzen hinaus: asiatisch getönte Rhythmen und Tonalitäten gehören seitdem zum Material.

Nun folgt eine Welle von Musikern, die weiter forscht: Die Sängerin Cymin Samawatie beschreitet mit ihrer Band Cyminology seit Jahren einen Weg, der hochkultivierte Improvisation mit persischen Klängen und Melodien und sie selbst mit ihrer deutsch-iranischen Biografie in Einklang bringt.

Fast zeitgleich bringen die Berliner Pianistin Julia Hülsmann und ihr Osloer Instrumentalkollege Jon Balke programmatisch durchgestaltete Alben heraus, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit der Geschichte der islamischen Welt (die sich mit der Geschichte der christlichen Welt überschneidet) befassen: Es ist sicher kein Zufall, dass beide zu Ergebnissen kommen, die beim ersten Hören eine gewisse Verunsicherung auslösen, weil sie zart, aber entschlossen und mit höchster handwerklicher Rechtschaffenheit, die festen Zuordnungen sprengen und unüberhörbar etwas Neues aufbauen. Das wurzelt in mindestens drei musikalischen Welten: Improvisation, nahöstliche Kunstmusik, westliche Kammermusik. Die Grenzen werden durchlässig.

Eine gute Nachricht.

Angelika NiescierSublim III, Enja. Jon BalkeSiwan, ECM. Julia Hülsmann/Marc SinanFasil, ECM

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