Lauschangriff 3/08

Musik Für die internationale Jazzgemeinde war 2007 ein Jahr der Abschiede. Intensiver Abschiede wie dem von Michael Brecker, der seine Anhänger mit einer ...

Für die internationale Jazzgemeinde war 2007 ein Jahr der Abschiede. Intensiver Abschiede wie dem von Michael Brecker, der seine Anhänger mit einer im Angesicht des nahenden Todes eingespielten letzten Aufnahme tröstete. Beiläufiger Abschiede, lakonisch wie ein Verklingen, dem irgendwann die Nachricht von Max Roachs Tod folgte. Plötzlicher Abschiede wie von Joe Zawinul, der aus einem regen Tourleben gerissen wurde. Oder erwarteter Abschiede wie demjenigen von Oscar Peterson, der nach dem Schlaganfall im Jahr 1993 nur noch ein Schatten des einstigen Virtuosen (und dennoch berührend und ungeheuer beeindruckend) war. Und so unterschiedlich man die einzelnen Abschiede bewerten mag, in ihrer Summe drückt sich der fundamentale Wandel des Jazz beim Eintritt in sein zweites Jahrhundert aus. Die Helden der klassischen Moderne des Jazz sterben aus, sein afroamerikanisches Zentrum zerfällt. Niemand sprüht mehr "Max lives" an Hauswände wie damals, als mit Charlie Parker ein Zentralgestirn des damaligen Jazz erloschen war.

Und mit dem Abschied legen sich auch die überlieferten Deutungsschemata zur Ruhe. Wo man einst eine teleologisch auf Fortschritt in Richtung Freiheit und Komplexität gerichtete Entwicklungslogik am Werk sah, die in Zehnjahressprüngen neue Stile hervorbrachte, herrscht heute ein fröhliches Durch- und Nebeneinander verschiedener Stile und ihrer Weiterführungen. War der Jazz in seinem ersten Jahrhundert eine genuin afroamerikanische Musik, die immer auch eine Geschichte von der Unterdrückung der Schwarzen in der Plantagenwirtschaft der USA erzählt hat, ist er längst über alle ethnischen und geographischen Grenzen getreten.

In jedem Abschied steckt ein neuer Anfang, und dem wohnt wiederum ein Zauber inne. In dem Maße, wie sich das alte Bild vom Jazz verflüchtigt, wie ihm das Zentrum abhanden kam, keimen allerorten seine Ableger. Nie war der Jazz so reichhaltig und fruchtbar wie heute, wo er sich dezentralisiert hat. In allen möglichen Ecken der Erde arbeiten musikalisch exzellent ausgebildete Musiker an individuellen Amalgamen ihrer Kunst der Improvisation mit musikalischen Herausforderungen aus allen Richtungen. Klassik, Neue Musik, freie Improvisation, ethnische Musikkulturen, Elektronik, Punk und natürlich Swing und Pop - anything goes, alle Quellen sind zugänglich und können den aktuellen Jazz bereichern, so lange Ernst, Leichtigkeit und Eigensinn in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Zu viele Bachstücke sind schon verswingt, zu viele Lounge-Jazz-Acts gewässert, zu viele Standard-Harmoniefolgen und Volksweisen als Vorwand für Skalen-Etüden entwertet und zu viele blutjunge Gesangsdiven abgestürzt, als dass nicht die Gefahr eines Eklektizismus bekannt wäre.

Aber es geht doch. Selbst in Deutschland, das sich über die Jahre nicht als der reiche Acker des Jazz hervorgetan hat, kündigt sich im neuen Jahr eine gute Ernte an. Manfred Eicher hat mit seinem Label ECM schon lange die Stellung eines Leuchtturms im internationalen Jazzgeschäft inne, der mit erlesenen Produktionen gezielt an den alten Gewissheiten der Jazzgemeinde vorbeistrahlt. Der mittlerweile in Zürich lebende Posaunist Nils Wogram produziert mit diversen langlebigen Projekten reihenweise aufregende Musik zwischen den Polen Hot und Cool. Und das Label ACT feiert mit dem Saxofonisten Heinz Sauer nicht nur einen herausragenden Vertreter seines Fachs seit Anfang der sechziger Jahre, sondern einen Musiker, der nie aufgehört hat, die Auseinandersetzung mit jungen Musikern und den musikalischen Welten, in denen sie groß geworden sind, zu suchen. Im Duett mit dem Pianisten Michael Wollny, der vom Alter her sein Enkel sein könnte, zelebriert Sauer auf höchstem Niveau Qualitäten, die den dezentralisierten Jazz des 21. Jahrhunderts charakterisieren: Neugierde, Sensibilität, Konfliktfähigkeit.

Michael BreckerPilgrimage. (Verve/Universal); Joe Zawinul (with WDR Bigband) Brown Street. (Intuition/Schott); Nils Wogram Nostalgia Affinity. (Intuition/Schott); Heinz Sauer The Journey. (ACT/edel); Wollny/Kruse/Schaefer [em] 3. (ACT/edel)

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