Vor einigen Jahren sprach der Bild-Chefredakteur Kai Diekmann in Hamburg über den „Erfolg der Marke Bild“. Nach seinem Vortrag forderte ihn eine Frau aus dem Publikum auf, etwas über die Katharina Blum zu sagen. Die Frage klang leicht deplaziert. Es wäre für Diekmann leicht gewesen zu sagen: „Verehrte Dame, als das Buch erschien, war ich gerade einmal zehn Jahre alt, es dauerte noch über 26 Jahre, bis ich Chefredakteur der Bild wurde; die Zeiten haben sich geändert, die Bild hat sich geändert, also was soll das?“
Doch das sagte er nicht. Stattdessen antwortete er, er müsse sagen, dass diese Katharina Blum ja immerhin einen Terroristen versteckt gehabt habe. „Ich kann bis heute nicht verstehen, was falsch daran sein soll, dass man sich mit einer solchen Figur publizistisch beschäftigt.“ Die geschilderten journalistischen Methoden halte er für „völlig zulässig“.
Zu den geschilderten Methoden gehört nicht nur, beinahe jedes Zitat und jede Tatsache zu verdrehen. Zu den geschilderten Methoden gehört auch, dass sich ein Reporter der Zeitung, wie sie bei Böll heißt, als Handwerker verkleidet, um die todkranke und vor jeder Aufregung zu schützende Mutter im Krankenhaus mit den Vorwürfen gegen Katharina Blum zu konfrontieren. Die Frau stirbt kurz darauf. Und Katharina Blum hat keineswegs einen Terroristen versteckt, sondern einen Mann, der verdächtigt wird, ein Terrorist zu sein.
Heinrich Böll hat die Story so pädagogisch angelegt, dass es kaum möglich ist, diesen Unterschied und seine Bedeutung nicht zu sehen oder die geschilderten Methoden der Zeitung gutzuheißen. Diese Plakativität spricht eigentlich sogar gegen seine Erzählung. Dass der Chefredakteur der realen Bild von heute das Vorgehen der fiktiven Bild-Zeitung von damals dennoch für legitim hält, sagt viel aus über die Relevanz, die dieses Buch immer noch hat.
Vieles hat sich geändert seit den siebziger Jahren, auch die Bild-Zeitung. Sie ist pragmatischer geworden, politisch flexibler, gibt sich seriöser, selbstkritischer. Aber die Mechanismen, die Böll beschreibt, die Gnadenlosigkeit, mit der sie Menschen zu Opfern macht, und die Wirkung der Berichterstattung sind im Kern dieselben geblieben.
Immer wieder gibt es Hinweise darauf, dass ihr auch heute fast jedes Mittel recht ist, um an eine Geschichte zu kommen. Als Begründung muss heute wie damals das angebliche öffentliche Interesse herhalten. Und dass es zum Wesen eines Rechtsstaates gehört, dass auch Kriminelle, sogar die schlimmsten Verbrecher, Rechte haben, ist eine Tatsache, die Bild nicht nur aus Populismus in ihrer Berichterstattung regelmäßig ausblendet, sondern an der ihre führenden Mitarbeiter tatsächlich verzweifeln. Nicolaus Fest, Mitglied der Chefredaktion, war vor einiger Zeit fassungslos, dass sein Blatt das mutmaßliche CIA-Folteropfer Khaled Al-Masri in niederträchtiger Weise beschimpft hatte.
Ermittlungsergebnisse, die auf verblüffende Weise ihren Weg von der Polizei in die Zeitung finden; prominente Menschen mit gutem Draht zur Redaktion, der eine positive Berichterstattung sicherstellt, auch wenn dazu die Wahrheit gedehnt werden muss; die unglaubliche Reichweite und die Angst, gegen falsche Berichte vorzugehen – es ist schwer zu sagen, ob die erstaunliche Zeitlosigkeit der Geschichte über die verlorene Ehre der Katharina Blum für Böll spricht oder gegen die Bild-Zeitung.
Stefan Niggemeier ist Medienjournalist, Blogger und Mitgründer von bildblog.de
Werke Band 27 , Kölner Ausgab
e,
Heinrich Böll
, Kiepenheuer & Witsch 2010,
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